Äthiopien: "Die Dürre nimmt kein Ende"
Wie ist es eigentlich, wenn man hungern muss und einem langsamen Hungertod entgegensieht? Wie ist es, wenn alles, was man in der Familie besaß, nach und nach schwindet, wenn die Kinder an Gewicht verlieren und auch der Partner sich darum Sorgen macht, wie schlimm es in der Zukunft noch kommen könnte? Wie es ist, mit solchen Fragen konfrontiert zu sein, das bekam ich im Oktober 2011 als ich Südäthiopien besuchte.
Die Situation dort ist zum Verzweifeln. Die Menschen hungern, das Vieh stirbt massenweise, es gibt kaum mehr Wasserstellen und Weideland und die Menschen wissen nicht, ob sie überhaupt noch eine Zukunft haben. In weiten Teilen der Region Oromia in Südäthiopien hat es seit März 2010 nicht mehr geregnet. Rund 4,5 Millionen Menschen sind auf Lebensmittel aus humanitärer Hilfe angewiesen; eine Viertelmillion Nutztiere sind bereits verendet. Vergangene Woche habe ich es mit eigenen Augen gesehen: Ich traf Menschen, die nur mehr von Nothilfe leben und ich sah die verfaulenden Kadaver von Rindern an den Straßenrändern.
Dieser Verlust von Nutzvieh ist eine der zentralen Fragen in Äthiopien. Der Großteil der Bevölkerung im Land, etwa 85 Prozent, wohnt auf dem Land. Besonders im Süden leben viele Menschen als Viehhirten. Seit mehreren Generationen sind sie Halbnomaden, züchten Kühe, Schafe, Ziegen und Kamele und leben von den Produkten dieser Tiere: von Milch, Käse und Fleisch. Ihr Vieh ist ihr einziger Besitz. In Äthiopien wird der Wohlstand eines Menschen nicht am Auto gemessen, das er besitzt oder am Haus, das er bewohnt, sondern an der Zahl und am Gesundheitszustand seiner Nutztiere.
Aus Zucht und Verkauf von Jungtieren kommt seit Jahrtausenden das Kapital, mit dem die Menschen in Südäthiopien Getreide, Kleidung, Medizin und - dort, wo es solche Einrichtungen gibt - Schulgebühren bezahlen können. Die Tiere werden geliebt und gepflegt, sie sind untrennbar verbunden mit der Identität und Geschichte ihrer Hirten. Für die bedeutet es bereits eine Riesenschande, auch nur ein Stück ihres Viehs zu verlieren, geschweige denn eine ganze Herde.
Hoffnungslose Zukunft?
Das ist der tragische Hintergrund der momentanen Dürre, die auch Südäthiopien heimsucht. Nicht nur, dass die Menschen hungern und zunehmend verzweifeln, sie sind nun auch mit dem möglichen Ende ihrer traditionellen Lebensweise konfrontiert. Viele Menschen sagten mir, es gäbe keinen Plan B. Wenn das Vieh sterbe, dann seien sie als nächste dran. Andere berichteten mir, bereits vollkommen hoffnungslos, es würde jetzt für sie keine Rolle mehr spielen, ob es einmal wieder regnen würde, sie hätten bereits alles verloren.
Es ist zutiefst erschreckend, dass für die nächsten Monate, wenn es keinen Regen geben sollte, Hunderttausende total von humanitärer Hilfe abhängig sind, ohne die sie sterben müssten. Die nächste erwartete Regenzeit sollte eigentlich schon im September beginnen, aber es kamen nur einige vereinzelte leichte Schauer. Und die meteorologischen Zukunftsprognosen sind nicht gut.
Letzte Woche besuchte ich einige Hilfsprojekte verschiedener Caritas-Organisationen und deren lokaler Partner. Diese Projekte stellen eine bedeutende Lebensader für die Menschen dar. Zu den Projekten zählen Lebensmittelverteilungen, finanzielle Hilfen, Cash-for-Work-Initiativen, durch die arbeitsfähige Menschen die Möglichkeit erhalten, ein Einkommen für sich zu erzielen und gleichzeitig ihren Gemeinden darin helfen zu können, weniger anfällig für die Dürre zu sein. Das geschieht zum Beispiel dadurch, dass sie Weideland von unproduktiven Pflanzen befreien, dass sie Teiche tiefer legen, in denen, wenn es einmal regnen sollte, sich Wasser stauen kann oder indem sie Brunnen in Stand setzen, damit Mensch und Tier wieder Zugang zu Wasserquellen haben. Ferner zählen zu den Projekten Futterstationen, die dem noch gesunden Vieh zu überleben hilft. Das kranke oder schwache Vieh wird von der Caritas gekauft; auf diese Weise haben die Menschen zum einen Bargeld für ihre Familien und bekommen zum anderen Bedürftige Fleisch zu essen.
Als ich von Dorf zu Dorf reiste, konnte ich sehen, dass die Caritashilfe viel bewirkt. Ich konnte aber auch sehen, dass der Bedarf noch viel größer ist als das, wofür wir sorgen. Mehr oder weniger die Hälfte der Bevölkerung im Süden Äthiopiens steht kurz vor dem Abrutschen in die tiefste Armut.
Warten kann tödlich sein
Im Grunde genommen sehen wir aus den wohlhabenden Nationen stets nur das End-Stadium - dann, wenn es genügend abgemagerte Babys gibt, um Fernsehbilder zu "rechtfertigen", die das sich ausbreitende Elend einfangen sollen. Doch abseits der Flüchtlingslager und unbeachtet von der Weltöffentlichkeit steht wächst bereits die nächste Schar von hungernden Menschen heran, die langsam aber sicher in eine Situation vollkommener Abhängigkeit von humanitärer Hilfe geraten oder ansonsten vor dem sicheren Tod stehen. Zweifellos werden viele von ihnen sich dorthin aufmachen, wo es Hilfe zu erwarten gibt. Ich traf auf viele, die auf der Suche nach Wasser bereits einen tagelangen Marsch hinter sich hatten.
Wenn sie abgemagert genug sind, wenn ihre Todesraten ansteigen, dann wird die Weltöffentlichkeit wohl wieder die Menschen beachten, die unter der Dürre in Ostafrika leiden. Bis dahin können sie nur warten, beten, zusehen, ob sie eine Handvoll Getreide erhalten oder einen Kredit vom Nachbarn erhalten - oder ihr zum Skelett abgemagertes Vieh verkaufen, wenn dies noch möglich ist, und, vor allen Dingen, beten, dass es endlich wieder regnet.
Die Caritas-Hilfe kommt gut an. Viele Menschen, die ich traf, erzählten mir, ohne sie wären sie wahrscheinlich schon tot. Neben den Lebensmitteln, dem Bau von Brunnen und anderen bereits erwähnten Hilfen liegt ein Fokus der Caritas auch darauf, den Viehhirten weitere Einkommensquellen zu ermöglichen. Ich besuchte etwa eine lokale Kooperative, die begonnen hatte, Seife für den Verkauf auf regionalen Märkten zu produzieren. Hilfsorganisationen und die ganze internationale Staatengemeinschaft müssen dringend noch sehr viel mehr tun, damit sie Hilfe zur Selbsthilfe für die die Ärmsten in unserer Welt leisten, besonders in so schwierigen Zeiten wie dieser.
In der Katastrophenhilfe - wie auch im aktuellen Fall in Ostafrika - kommt es darauf an, nachhaltige Hilfe zu leisten, damit die bedrohten und anfälligen Gemeinschaften gegen solche Disaster besser gewappnet sind. Diese langfristige Perspektive mag weniger medienfreundlich sein, die TV-Kameras mögen sich weiterhin auf das "Endstadium" der Katastrophe konzentrieren, doch nur wenn den Armen geholfen wird, dass sie sich selbst aus ihrer Lage befreien und ihre wirtschaftliche Situation und ihre Infrastruktur verbessern können, werden sie in der Zukunft solch schlimme Phänomene wie eine riesige Dürre bewältigen können.
Nur dann kann man darauf hoffen, dass die Lebensbedingungen und der Würde der unter der Dürre leidenden Menschen wiederhergestellt werden, die momentan zwei bitteren Dingen ins Auge sehen müssen: der totalen Abhängigkeit von humanitärer Hilfe und dem Verlust ihrer Welt, wie sie sie bisher kannten.
27. Oktober 2011