Perspektiven für junge Menschen in Not
Fehlende Stadtplanung und der Mangel an Arbeitsplätzen führen bei den Menschen in El Alto zu Perspektivlosigkeit und Frust, die sich in Gewalt und sozialen Spannungen niederschlagen. Familien zerbrechen, die Zahl der Suchtkranken steigt ebenso wie die Zahl der Obdachlosen, darunter hunderte Minderjährige. Viele junge Frauen sehen sich gezwungen, ihren Körper zu verkaufen, um sich und ihre Familien ernähren zu können.
„Am schlimmsten war, wie die Männer einen behandelten“
Um junge Menschen aus ihrer Zwangslage zu befreien und sie in eine bessere Zukunft zu begleiten, arbeitet Caritas international in El Alto mit den Ordensschwestern „Hermanas Adoratrices“ und der kirchlichen Stiftung „Munasim Kullakita“ zusammen. Eine, der es durch diese Hilfe gelungen ist, dem Teufelskreis des Lebens auf der Straße zu entkommen, ist Marisol.
Sie ist eine der ersten, die in den neu gegründeten sozialen Wohngruppen von „Munasim Kullakita“ aufgenommen wurde. „In den vergangenen zwei Jahren hat Marisol gezeigt, dass sie eine sehr verantwortungsbewusste junge Frau ist. Wir haben volles Vertrauen in sie“, versichert ihr Erzieher Bernardo Tancara. Er erklärt, wie die Wohngruppen funktionieren. Die Stiftung stellt die Unterkunft zur Verfügung und zahlt die Kosten für Wasser und Strom. Die jungen Frauen müssen das Geld für Verpflegung, Kleidung sowie sonstige private Ausgaben selbst verdienen. „Wir Erzieher und Psychologen lassen ihnen Freiheit, kommen aber regelmäßig vorbei, um nach ihnen zu sehen.“
Marisol lebte fünf Jahre lang auf der Straße. Als sie zwölf Jahre alt war, starb ihre Mutter. Sie überlebte, indem sie stehlen ging. So wie andere Mädchen in ihrer Lage ging sie bald auch „Zimmer machen“ und verkaufte ihren Körper. „Am schlimmsten war, wie die Freier einen behandelten. Viele von ihnen waren Polizisten, Lehrer oder Taxifahrer, eigentlich Leute von denen man so ein Verhalten nicht erwarten würde.“
Marisol trotzt weiterer Schicksalsschläge und verfolgt eisern ihren Traum
Über Marisols Bett hängen zwei Todesanzeigen. Ihr Verlobter starb an Aids. Marisol wurde HIV positiv getestet, als sie schwanger war. „Ich suchte Hilfe und ging zur Stiftung Munasim Kullakita.“ Ihr Sohn kam im Heim zur Welt. Er wurde nur ein Jahr alt. „Er bekam plötzlich keine Luft mehr. Bis wir im Krankenhaus waren, war es schon zu spät.“ Marisols Blick wird leer, aber sie vergießt keine Träne. Wenn die Straße einen etwas lehrt, dann stark zu sein und immer wieder von vorn anzufangen.
Die zwei Jahre, die sie zusammen mit 17 anderen Jugendlichen im Heim der Stiftung verbracht hat, nutzte Marisol so gut sie konnte. Sie hat ihre Drogen- und Alkoholabhängigkeit überwunden, hat ihre Schulausbildung fortgesetzt und Lehrgänge in Konditorei, Bäckerei, Schneiderei und Gastronomie abgeschlossen. Für ihre neue Arbeit in einem Reinigungsunternehmen steht sie jeden Morgen um sechs Uhr auf. Nach einem halben Jahr in ihrer ersten regulären Arbeitsstelle als Reinigungskraft wird Marisol bereits zur Teamleiterin befördert. Sie träumt davon, die Sekundarschule abzuschließen. „Danach will ich an die Uni gehen, Betriebswirtschaft studieren und mein eigenes Restaurant eröffnen!“
Landflucht eine Ursache für die sozialen Probleme in El Alto
El Alto war einst lediglich ein mittelgroßer Vorort der Hauptstadt La Paz. Noch immer wächst El Alto jedes Jahr um bis zu 40.000 Menschen. Es ist eine Frage der Zeit, bis die Stadt eine Million Einwohner zählen wird. Die Zugezogenen sind zum großen Teil Indigene aus dem Altiplano, dem Hochland Boliviens. Zunehmend kommen aber auch Migranten aus anderen ländlichen Regionen Boliviens, wo die Lebensbedingungen und die wirtschaftliche Situation sehr schlecht sind. Zudem sind die Menschen in Teilen des Landes von immer häufiger werdenden Naturkatastrophen, Dürren und Überschwemmungen, bedroht.
Die Menschen kommen, um in der Stadt eine Arbeit und ein besseres Leben zu finden. Doch die Hoffnungen der Zugezogenen zerbrechen meist allzu schnell an der Realität. In den meisten Vierteln El Altos gibt es weder Wasser, Strom noch eine Kanalisation. Eine Arbeit finden nur wenige. Hinzu kommt, dass die Rivalität um meist informelle Arbeitsplätze gesellschaftlichen Zusammenhalt verhindert, was dramatische Folgen für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft hat. Ein Großteil der Migranten bleibt sozial ausgeschlossen und lebt weiterhin in größter Armut. Die Perspektivlosigkeit und die damit verbundenen sozialen Spannungen entladen sich häufig in Gewalt – auch innerhalb der Familien.
Mehr als 3.000 Menschen leben auf der Straße
Wer keine Arbeit findet und seine Miete nicht mehr zahlen kann, landet in El Alto schnell auf der Straße. Laut offiziellen Angaben leben rund 3.000 Menschen auf der Straße, etwa 40 Prozent von ihnen sind zwischen zehn und 19 Jahre alt. Viele der Kinder und Jugendlichen sind im familiären Umfeld Opfer von Missbrauch und häuslicher Gewalt geworden und daher von Zuhause geflohen. Doch auf der Straße haben sie keinerlei Zugang zu staatlichen Leistungen. Sie sind dadurch hochgradig gefährdet und jeder Form der Ausbeutung ausgesetzt, sei es Kinderarbeit, Drogen- und Alkoholkonsum oder käuflicher Sex.
Die Stiftung „Munasim Kullakita“ setzt daher neben Rehabilitationsprogrammen vor allem auch auf Prävention. „Wir laden die Jugendlichen – Jungen wie Mädchen - ein, in unseren ‚Offenen Raum‘ zu kommen. Nach und nach fangen wir dann an, mit ihnen über die Risiken zu sprechen, denen sie sich auf der Straße aussetzen und über die Hilfen, die wir ihnen anbieten können“, erklärt Ariel Ramírez, der als Psychologe bei der Stiftung arbeitet. Mit diesen kleinen Schritten beginnt für so manchen Jugendlichen ein langer und harter Prozess der sozialen Wiedereingliederung.
Vor dem Problem der Prostitution werden die Augen verschlossen
Viele Mädchen und junge Frauen, die auf der Straße und in extremer Armut leben, sehen aus Mangel an alternativen Einkommensquellen oft keine andere Möglichkeit, als ihren Körper zu verkaufen, um sich und ihre Familie zu ernähren. In El Alto sind so bereits etwa 4.000 Frauen in die Armutsprostitution abgerutscht. In der bolivianischen Gesellschaft haben sie genauso wie die Obdachlosen keinen Platz. Auch gibt es kein Gesetz, das den betroffenen Frauen Schutz bieten würde. Prostitution ist gesetzlich verboten, wird aber tatsächlich von den Behörden geduldet. Seit einigen Jahren beobachten die Sozialarbeiter(innen) vor Ort, dass die Zahl der im Sexgeschäft tätigen Minderjährigen steigt. Die Nachfrage nach immer jüngeren Frauen und Mädchen ist so stark gestiegen, dass Menschenhändler Profit aus der Situation schlagen.
Caritas international unterstützt Sozialarbeiter(innen), die die Frauen auf der Straße aufsuchen und sie in ihre Beratungszentren und Einrichtungen einladen. Dort haben die Frauen die Möglichkeit, handwerkliche Berufe zu erlernen oder ihre Schulausbildung fortzusetzen. Ziel ist, den jungen Frauen eine echte berufliche Alternative zu eröffnen, die ihnen ein tägliches Einkommen sichert und damit den Ausstieg aus der Prostitution ermöglicht.
November 2015