Interview mit Mitarbeitenden
Können Sie uns Ihre Arbeit kurz vorstellen?
Sok Dearozet: Unser Zentrum für Kinder mit geistigen Behinderungen ist das einzige seiner Art in Kambodscha. Wir arbeiten mit drei medizinischen Teams in einem stationären, einem gemeinwesenorientierten und einem schulbasierten Programm. Die Leitlinien der Programme sind Integration und Bewusstseinsbildung. Im Einzelnen sind das neben der Diagnose, der medizinischen Behandlung und den Therapien auch Beratungsgespräche mit den Eltern, Präventionsprogramme, Trainings für Freiwillige und Workshops für Lehrer und Schüler.
Dr. Bhoomikumar: Wichtig ist für uns, nicht nur die Kranken selbst zu behandeln, sondern die sozialen Probleme des Umfelds, aus dem die Kinder kommen, immer mit einzubeziehen: Der Hintergrund ist häufig Alkoholismus, Drogenmissbrauch, häusliche Gewalt, sexueller Missbrauch usw. Wir versuchen, auch die gesellschaftlichen Ursachen der Krankheiten zu verändern und bieten Beratung und Aufklärungskampagnen in den Gemeinden an.
Unter welchen Krankheiten leiden die meisten der Kinder und Jugendlichen?
Dr. Bhoomikumar: 40 Prozent der Kinder, die zu uns kommen, leiden an Epilepsie, was in Kambodscha als geistige Behinderung gilt. Es gibt sogar ein eigenes Wort dafür, das heißt "Chikoot-chiruk" und bedeutet soviel wie "total verrückt". Und das ist wirklich vertrackt, weil die Eltern die Kinder mit Epilepsie aus der Schule nehmen, obwohl man die Krankheit doch wunderbar medikamentös behandeln kann und die Kinder eigentlich leben könnten wie alle anderen auch.
Dann gibt es Kinder mit Entwicklungsstörungen und körperlichen Behinderungen, Trisomie-21, Psychosen, Depressionen. Viele psychische Erkrankungen sind auf Missbrauchserfahrungen zurückzuführen. Dazu kommen in Kambodscha häufig Erkrankungen über Infektionen, wie z.B. die sekundäre Epilepsie, als Folge einer Hirnhautentzündung. Oder auch die Erkrankungen durch Mangelernährung wie z.B. Jodmangel, oder Behinderungen, die auf Hirnentzündungen wegen mangelnder Hygiene zurückzuführen sind. Ansteigend sind die Fälle von Drogenmissbrauch und HIV/Aids.
In Ihrem Zentrum arbeiten Sie mit 22 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Beteiligen sich auch Freiwillige an Ihrer Arbeit?
Sok Dearozet: Sogar sehr viele. Im Zentrum selbst sind das unter anderem Studenten der Psychologie oder Berufseinsteiger aus dem Ausland, vorwiegend aus Singapur, die Trainings in ihren Spezialbereichen wie z.B. Autismus geben. Für die Freiwilligen aus den Gemeinden, aus den Familien und in den Schulen geben wir Workshops und Fortbildungskurse.
Welche Auswirkungen hatte der Bürgerkrieg und die Folgezeit auf die heutige Situation in Kambodscha?
Dr. Bhoomikumar: Der Bürgerkrieg hat bei uns sehr einschneidende Nachwirkungen hinterlassen. Der Krieg selbst ist zwar schon 27 Jahre vorbei, Frieden aber haben wir tatsächlich erst seit dem Jahr 2000. Es war sozusagen ein chronischer Krieg und es kehrte erst Ruhe ein, als Pol Pots Tod mit Gewissheit feststand. Jede Familie war in dieser Zeit zum Opfer geworden und die Bevölkerung ist stark traumatisiert. Eine der schlimmsten Nachwirkungen ist das fehlende Vertrauen untereinander. Niemand weiß von seinem Gegenüber: Ist er ein Opfer, ist er ein Täter, war er an Massakern beteiligt, will er mich ausspionieren? Das zermürbt die Menschen und macht das soziale Leben fast unmöglich.
Wirken sich diese Erfahrungen auf Ihre Arbeit aus?
Sok Dearozet: Sehr stark. Für unsere Arbeit heißt das, dass wir mit psychischen Erkrankungen zu tun haben, die eine direkte oder indirekte Kriegsfolge sind. Nur ein Beispiel: In der Zeit der Roten Khmer wurden alle Kinder von den Eltern getrennt und in Pol Pot - Kindergruppen gesteckt. Die etwas Älteren mussten auf dem Feld arbeiten und haben sogar gelernt, wie man Landminen herstellt. Sie waren Teil des Krieges. Man zwang sie dazu, die Eltern und Lehrer zu denunzieren, sie wurden zur Täterschaft gezwungen. Diese Kinder von damals sind heute selbst Eltern und haben keine blasse Ahnung davon, wie man als Eltern liebevoll Kinder erzieht, oder was Familienleben bedeutet. Gegenüber ihren Kindern verhalten sich die meisten von ihnen extrem: Entweder sie verwöhnen die Kinder vollkommen, nach dem Motto: "Ich habe so viel gelitten - deshalb gebe ich dir alles, was du willst". Oder aber genau das Gegenteil, sie sind unglaublich streng und harsch mit den Kindern.
Dr. Bhoomikumar: Dazu kommt noch, dass in dieser Zeit nur Zwangsehen geschlossen wurden. Nach dem Tod von Pol Pot wurden 70 Prozent aller Ehen wieder geschieden. Die Frauen bleiben mit den Kindern allein zurück. Wie überall auf der Welt sind die Frauen am stärksten vom Krieg und den Kriegsfolgen betroffen. Sie leiden meist im Stillen, haben Depressionen und übertragen ihr Leiden auf die Kinder.
Arbeiten Sie auch mit Erwachsenen?
Dr. Bhoomikumar: Wir sehen die Arbeit mit den Kindern nie isoliert. Wir schauen immer zuerst, ob die Krankheit eine körperliche Ursache hat, dann schauen wir, was mit der Familie ist. Wir versuchen immer, unser jeweiliges Konzept mit den Familien und in den Dörfern selbst zu entwickeln. Die Eltern sind die besten Lehrmeister für die Arbeit mit behinderten Kindern. Und wir beziehen so weit wie möglich alle mit ein - nicht nur in der Betreuung der Kinder, sondern auch in der Prophylaxe und bei der Weitergabe von Wissen.
Sok Dearozet: Das gilt auch für die Heiler. Viele Menschen gehen zu traditionellen Heilern, um sich selbst oder auch den Kindern helfen zu lassen. Es gibt da zum Beispiel die Methode der Reinwaschung von Sorgen und Krankheiten. Wir arbeiten mit den Heilern auch zusammen und heißen das gut, wenn es hilft. Wir achten allerdings darauf, ob sie ernsthaft arbeiten, oder ob sie nur Geld machen wollen oder sogar schädliche und harsche Methoden anwenden wie zum Beispiel "Branding". Wir bieten den Heilern auch an, mit uns zu arbeiten und an den Workshops teilzunehmen. Da gibt es sehr interessante Ansätze bei den traditionellen Methoden, von denen beide Seiten lernen können. Aber wie gesagt: Alles was, den Leuten hilft, ist gut. Und die Heiler helfen vielen.
Sie haben hier in Deutschland viele Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen besucht. Was sind für Sie die größten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Ihrer Arbeit in Kambodscha und der hier in Deutschland?
Sok Dearozet: Wir haben viele integrative Kindergärten, Schulen, Einrichtungen etc. gesehen. So was gibt es natürlich in Kambodscha nicht. Wir fanden den Besuch sehr interessant und hilfreich. Die Integrationsbemühungen bei uns sind dieselben, aber wir haben natürlich weniger Möglichkeiten, nicht so viel Geld und keine solche Ausstattung wie hier. Der größte Unterschied aber ist, dass die Menschen mit Behinderung in Deutschland selbst entscheiden können, wohin sie sich wenden. Sie haben viele Möglichkeiten und Angebote und bekommen selbst die Zuschüsse. So gibt es also auch die Notwendigkeit, dass sich die Einrichtungen untereinander messen und besser werden.
Dr. Bhoomikumar: Wir haben hier erfahren, dass, ganz ähnlich wie bei uns, geistige Behinderungen noch stärker stigmatisiert sind als körperliche Behinderungen. Eines unserer Hauptanliegen ist, die Akzeptanz auf allen Ebenen zu stärken. Häufig werden die Kinder bzw. ihre Behinderung verborgen, sie werden versteckt und die Eltern wissen nicht, wo sie Hilfe finden können. Das heißt nicht, dass die Kinder allein gelassen werden, aber das Stigma ist spürbar. Aber hier sehen wir bereits einen Fortschritt. Schritt für Schritt ändert sich das langsam.
Beeindruckend war für uns, dass sich viele der Klienten hier in Deutschland bei unserem Besuch an den Diskussionen beteiligt haben und die Patienten ein großes Selbstbewusstsein haben. Aber egal auf welcher Ebene: Die Männer haben immer zuerst das Sagen.
Wir versuchen in unserer Arbeit in Kambodscha, so offen wie möglich zu sein und den Schrecken vor "der Psychiatie" zu nehmen. Unser Zentrum ist ein gemeinsames Werk - das der Mitarbeitenden ebenso wie das der Klienten. Weiße Kittel gibt es bei uns nicht, und auch keine Hierarchie. Wir setzen uns alle zusammen und machen den Plan für die Woche und wir arbeiten auch im Garten zusammen.
Apropos Garten: Sie haben in Ihrem Projekt auch ein Gartenprogramm mit ökologischem Anbau.
Dr. Bhoomikumar: Ja, das Gartenprogramm ist ein sehr wichtiger Part, der das Zentrum mit trägt. Mit dem ökologischen Anbau sind wir Vorreiter in Kambodscha und unsere Klienten sind Experten in dem Gebiet. Der Output bei den Produkten ist sehr wichtig. Da geht es nicht um Beschäftigungstherapie, sondern um wirklich wichtige, sinnvolle Arbeit. Die Klienten leisten damit also einen echten Beitrag für die Gesellschaft und sind die Pioniere in der ökologischen Landwirtschaft.
Dezember 2007