Kinder, die plötzlich Mütter werden
Ich sitze im Auto in der Mitte auf der hintern Sitzbank zwischen meinen Kollegen und versuche mich so gut es geht auf der von Schlaglöchern übersäten Straße festzuhalten. Meine Gedanken überschlagen sich währenddessen. Mein Kopf ist voll mit den Geschichten, die ich den ganzen Tag über hörte. Begünstigte unserer Projekte erzählten mir furchtbare Geschichten von Flucht und Vertreibung, von Verlusten, von vermissten Familienangehörigen und von Gewalt – so viel Gewalt. Ich versinke in meinen Gedanken und versuche zu begreifen. Meine Gedanken schweifen in meine Studienzeit, Hannah Arendt und „die Banalität des Bösen“ kommen mir in den Sinn, doch eine Antwort auf mein Grübeln finde ich nicht.
Das Auto bremst plötzlich abrupt: ein großes Schlagloch vor uns – geschickt manövriert der Fahrer das Auto hindurch. In einiger Entfernung erblicke ich einzelne Behausungen, notdürftig zusammengeschustert aus Stöcken, Plastikplanen und Karton. Links und rechts sind vereinzelt einige Brunnen, an welchen aufgereiht Plastikkanister auf ihre Befüllung warten. Der Fahrer verlangsamt die Geschwindigkeit, Kinder laufen nun rufend und winkend neben den Autos her. Wir sind in einem Camp für intern Vertriebene in Kolofata angekommen. Die Kinder umrunden die Autos und strecken uns ihre Hände entgegen. Sie sind spärlich angezogen, die meisten von ihnen barfuß, schmutzig und mit laufenden Nasen. Eine Frauengruppe in der Nähe fängt an zu singen, als sie uns aussteigen und auf sie zukommen gehen sehen. Sie begrüßen uns herzlich mit einem einheimischen Lied und klatschen dabei rhythmisch in die Hände. Es ist ein schönes Bild, all diese Frauen und Mädchen in ihren bunten, langen Kleidern.
Wir gesellen uns zu einer Gruppe junger Mädchen, zwischen 10 und 17 Jahren alt. Sie sitzen dicht beieinander im Schatten einer Mauer. Ich sehe, dass viele von ihnen Babys und Kleinkinder auf dem Arm oder dem Rücken tragen, manche von ihnen stillen sie auch. Marthe Wandu, unsere Kollegin von ALDEPA, eine lokale Organisation in Maroua, wendet sich mir zu: „Diese Mädchen sind Opfer von Kinderheirat. Sie sind alle ca. zwischen 10 und 17 Jahren alt. Das sind also Kinder mit ihren eigenen Kindern.“
Ich schaue mich um und sehe in Kindergesichter. Kindergesichter, die trotz des jungen Alters gezeichnet sind und auf eine surreale Art älter wirken. Der Ausdruck der meisten Mädchen ist leer und ihr Blick scheint fern. Nach anfänglicher Unsicherheit fangen sie an uns ihre Geschichten zu erzählen, eine nach der anderen. Um ihre Identität zu wahren, werden die Namen der Mädchen hier nicht explizit genannt.
Es sind Geschichten, die so unnatürlich scheinen. Sind das nicht Kinder, mit denen wir hier sprechen? Wie können sie denn schon verheiratet und mittlerweile auch wieder geschieden sein? Und geschweige denn eigene Kinder haben? Die Jüngste von ihnen ist 13 Jahre alt – 13 Jahre, mit Kind und geschieden. Sie erzählen ihre Geschichten knapp, anteilnahm-emotionslos und der Inhalt wiederholt sich. Keine von ihnen wollte heiraten, aber so wurde es einfach bestimmt. Von ihren eigenen Eltern. Es wird mit den Worten „Tradition“ und „Kultur“ begründet oder gar doch entschuldigt? Sie erfuhren psychische und physische Gewalt, darunter sexuelle Gewalt. Es schaudert mich immer und immer wieder und es fällt mir schwer meine Emotionen zu kontorollieren. Ich denke zurück an die Zeit, in der ich 13, 14 oder 15 Jahre alt war. Ich weiß auf alle Fälle: ich habe definitiv nicht über Heirat und Kinder nachgedacht, sondern eine Kindheit und eine Jugend gehabt, in der ich entdecken, mich entfalten und wachsen konnte. Das haben diese Mädchen hier nicht. Sie wurden gegen ihren Willen gezwungen eine Rolle einzunehmen, die sie nicht einnehmen sollten.
Mein Kollege Volker Gerdesmeier fragt sie gegen Ende unseres Gesprächs, was sie sich für die Zukunft wünschen würden und was ihre Träume sind. Sie kichern verlegen und antworten in leisen Stimmen: „Ich möchte die Schule beenden. Vielleicht kann ich eines Tages sogar die Universität besuchen“, oder „Ich möchte gerne Ärztin werden und anderen Frauen bei Geburten helfen“ und „Ich möchte Lehrerin werden und junge Mädchen unterrichten“ – Legitime, normale Träume junger Mädchen.
Die leitende Kollegin und die dort anwesenden Sozialarbeiter von ALDEPA erklären uns, dass sie insbesondere Sensibilisierungsarbeit leisten. Sie sprechen mit den Eltern der Mädchen und mit den Mädchen selbst. Sie klären auf, dass vor dem 18. Lebensjahr keine Heirat stattfinden sollte, wenn doch intervenieren sie. Sie ermutigen Mädchen nicht zu früh zu heiraten, auch wenn das so seitens derer Familie gewollt sein mag. Sie leisten ebenso psychosoziale Unterstützung für die betroffenen Mädchen und Frauen, die erfahrungsgemäß an post-traumatischen Stresssyndromen leiden. Es gibt Frauen- und Mädchengruppen, die sich mehrmals die Woche treffen und sich gegenseitig unterstützen.
So lernen wir auch Fadi Boukar (26 Jahre) kennen, die sich uns als Präsidentin einer der Frauengruppe vorstellt. Sie wurde selbst mit 12 Jahren verheiratet und erlebte Furchtbares. Sie hat sechs Kinder, ihr Mann verließ sie für eine andere Frau; seitdem kommt sie alleine für ihre Familie auf. Zudem zwang sie der Boko Haram Konflikt ihr Heimatdorf zu verlassen. Sie ist eine Binnenvertriebene. Das Erfahrene hilft ihr jedoch, die Betroffenen zu verstehen und sie zu unterstützen. Ich bewundere sie aufrichtig, dass sie trotz all dieser Niederschläge eine so starke Frau sein kann, die solch wichtige Arbeit leitet. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht teilt sie uns stolz mit: „Wir konnten bisher allein in diesem Camp 10 Kinderheiraten durch unsere Arbeit verhindern. Diese Mädchen gehen nun stattdessen zur Schule“.
Dieser Tag wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben. Die Lebens- bzw. Leidensgeschichten dieser Mädchen und Frauen haben mich tief berührt und mich daran erinnert, wie viel Glück ich doch selbst hatte. Ich bewundere diese starken Mädchen und Frauen. Trotz ihrer furchtbaren Erlebnisse kämpfen sie und zwar nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere mit beachtlichem Erfolg. Das ist nicht nur nobel und anerkennenswert, sondern es gibt auch Hoffnung für die Zukunft.