Deutschland: Im Mittelpunkt der Arbeit steht der Mensch
Mit Steinen gegen das Trauma
"Manche haben ihre Kinder verloren, andere ihren gesamten Besitz. Da denke ich, uns geht’s doch eigentlich noch ganz gut", versucht Miriam Gehlert gleich zu relativieren. Doch es wird schnell klar, dass die schrecklichen Ereignisse vom Juli 2021 auch bei ihr und ihrem Mann Markus tiefe Spuren hinterlassen haben. "Ich brauche Tabletten und zur Psychologin gehe ich auch. Wenn es regnet, sitze ich manchmal da und weine. Aber wer selbst nicht dabei war, kann nicht verstehen, was damals passiert ist", erzählt sie.
Miriam und Markus Gehlert vor ihrem "Tinyhouse", in welchem sie untergekommen sind bis sie ein neues Zuhause gefunden haben.Foto: Annette Etges / Caritas international
Traumatisierung und finanzieller Druck nach der Flut
Das Ehepaar wohnte im Ahrtal im zweiten Stockwerk eines Mehrfamilienhauses zur Miete. Das Wasser zerstörte ihren ganzen Besitz. "Bei uns stand das Wasser nicht bis zur Decke wie im ersten Stock, aber alles, was in der Wohnung oder der Garage stand, ist hinüber. Als das Wasser weg war, dauerte es keine zwei Tage, bis alles anfing zu schimmeln", erinnert sich Markus Gehlert. "Alles, was von der Plörre berührt wurde, kannst du wegschmeißen - der Gestank geht nicht raus. Öl, Abwasser, die Klärwässer, Batteriesäure, die Leichen - der Gestank war unglaublich. Es gab sogar Gerüchte, die Cholera wäre ausgebrochen", ergänzt seine Frau.
Die beiden sind froh, dass sie nur zur Miete gewohnt haben, das erleichtert den Neuanfang. "Andere müssen noch ihr zerstörtes Haus abbezahlen und sich gleichzeitig um den Neuanfang kümmern", wissen Miriam und Markus Gehlert.
Caritas-Mitarbeiterin Silke Günter im Beratungsgespräch mit Ehepaar Gehlert. Von der Caritas erhielt das Ehepaar bereits im Dezember Haushaltsbeihilfen von 2.500 Euro. Der Kontakt ist seit da nie abgerissen.Foto: Annette Etges / Caritas international
Der Caritas ist das Ehepaar zum ersten Mal im Dezember 2021 begegnet. Mit Unterstützung von Caritas-Mitarbeiterin Silke Günter beantragten sie Haushaltsbeihilfe. "Aber wenn jemand wirklich alles verloren hat, dann reichen die Leistungen von Staat, Versicherung und Hilfsorganisationen nicht. Wenn zum Trauma und dem eventuellen Verlust von Freunden oder Angehörigen noch finanzieller Druck hinzukommt - das ist für viele kaum auszuhalten", erklärt Günter. Bei ihren Beratungsgesprächen merkte sie schnell, dass Miriam Gehlert neben der finanziellen Hilfe zusätzliche Unterstützung benötigt.
Die Caritas reagiert individuell auf die Bedürfnisse der Betroffenen
Eine Kernkompetenz der Caritas ist die psychosoziale Betreuung. Doch was tun, wenn Gespräche gerade gar nicht das sind, was der oder die Betroffene braucht? "Ich gehe zu einer Psychologin, aber das ständige Sprechen und Erzählen ist auch sehr anstrengend für mich. Die Ärztin redet von ‚Fatigue‘ - ich bin so erschöpft, habe Kopf- und Nackenschmerzen. Ich kann nicht immer darüber reden, manchmal brauche ich meine Ruhe", sagt Melanie Gehlert.
Miriam Gehlert beim bemalen der Flut-Steinen. Die Arbeit mit den Steinen verschafft ihr innere Ruhe und hilft ihr momentan mehr als eine psychosoziale Begleitung.Foto: Annette Etges / Caritas international
Sie hat etwas anderes gefunden, was ihr innere Ruhe gibt und ihr hilft, mit dem Trauma zurechtzukommen: Melanie Gehlert sammelt mit Unterstützung von ihrem Mann Markus Steine aus der Ahr. Diese "Flut-Steine" bemalt sie mit derart viel Kreativität, dass wahre Kunstwerke entstehen. "Das kam mir einfach so in den Sinn. Irgendwie hat es mich beruhigt, wenn ich vor den Steinen sitze". Melanie Gehlert spielt mit der Form der Steine, mit ihrer Größe und Struktur. Ihr Mann unterstützt sie dabei: "Das ist Teamwork: Wir gehen zusammen zu Fuß, mein Mann sucht und trägt die Steine. Ich bemale sie, er lackiert sie. Manche verschenke ich, andere behalte ich."
Kreativarbeit: Miriam Gehlert nutzt Form und Struktur der Steine, um mit ihren Farben kleine Kunstwerke zu erschaffen. Foto: Annette Etges / Caritas international
Melanie Gehlert geht es besser, seit sie malt. Das hat auch Silke Günter schnell erkannt. Und so unterstützt auch die Caritas das "therapeutische Hobby" von Melanie Gehlert. "Die Farben und Lacke sind teuer für jemanden, der gerade alles verloren hat. Daher bezahlen wir ihr die Materialien, auch wenn sie die Unterstützung erst nicht annehmen wollte", berichtet Silke Günter.
Reportage von Kim Nicolai Kerkhof, Juni 2022