Syrien: Der endlose Krieg
"Jetzt im Winter wird es sehr, sehr kalt. Ich habe vielerorts Resignation gespürt."
Angela Gärtner, Referentin für Syrien bei Caritas internationalFoto: Bente Stachowske / Caritas international
KNA: Syrien schafft es kaum noch in die Nachrichten. Caritas international berichtet aber von anhaltenden Leid weiter Teile der Bevölkerung. Sie haben gerade Hilfsprojekte in Aleppo und Homs besucht. Wie geht es den Menschen?
Angela Gärtner: Die Situation ist elf Jahre nach Beginn des Krieges schlicht katastrophal. So schlimm habe ich es noch nie erlebt, und ich reise seit Jahren regelmäßig nach Syrien. Entgegen der schwachen Hoffnung, dass sich die humanitäre Lage vielleicht bessern könnte, wenn die akuten Kampfhandlungen zurückgehen, ist nun deutlich: Die Not und das Leiden der Menschen werden immer größer. Inzwischen leben mehr als 90 Prozent der Syrer in Armut. Alle diese Menschen müssen jeden Tag schauen, wie sie überleben können.
Auf dem Höhepunkt des Krieges wurden ganze Städte zerbombt. Hat der Wiederaufbau von Wohnungen begonnen?
Nein, in den besonders verwüsteten Städten Aleppo und Homs ist fast nichts aufgebaut oder repariert. Ich war jetzt bei Familien, die in völlig zerstörten Häusern leben. Sie versuchen sich mit Plastikplanen vor der Kälte zu schützen. Und jetzt im Winter wird es vielerorts sehr, sehr kalt. Es gibt kaum Strom. Die Menschen sitzen im Dunklen und Kalten, sie können sich auch kein Kerosin leisten, um damit Heizöfen zu betreiben. Ich habe in vielen Gesprächen eine sehr beklemmende Resignation gespürt. Viele sagten mir: Wir haben keine Hoffnung, dass unser Leben noch einmal besser wird.
Was bedeutet dies für Kinder und Jugendliche?
Die Situation der Kinder ist am bedrückendsten. Viele Kinder kennen nur das Leben in Krieg und Krise. Manche haben jahrelang keine Schule besuchen können. Bis heute sind die meisten Schulen zerstört. Und es gibt keinerlei Anzeichen für den Wiederaufbau. Viele Lehrer haben Syrien verlassen. Die Bildungsqualität in den überfüllten Klassen ist entsprechend schlecht.
Hinzu kommt jetzt, dass Eltern ihre Kinder nicht mehr in die Schule schicken. Sie müssen stattdessen Plastikmüll oder Eisen sammeln. Sie bekommen bei den Zwischenhändlern zwar fast nichts dafür, aber dieses Wenige hilft den Familien, wirtschaftlich zu überleben. Auch haben wir Hinweise darauf, dass die Zahl von Kinderheiraten ansteigt. Familien wissen sich nicht anders zu helfen, als ihre Tochter durch eine Kinderheirat in eine andere Familie abzugeben. Das ist erschreckend.
Wie hart wurde Syrien von Corona getroffen?
Derzeit rollt die vierte Welle. Es gibt sehr viele Infektionen und wenig Prävention. Die Menschen haben akute Überlebensnöte und können sich nicht mit Masken, Abstand und Desinfektion befassen. Hinzu kommt, dass die ehemals sehr gute medizinische Versorgung in weiten Teilen zusammengebrochen ist. Als letzter Ausweg bei einer Erkrankung bleibt dann, sich irgendwie eine Sauerstoffflasche für Zuhause zu besorgen. Es gibt viele Corona-Tote.
Gibt es Versuche, die Pandemie durch Impfkampagnen zu stoppen?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) setzt in Syrien mobile Impfteams ein. Laut jüngsten Zahlen ist nur eine kleine Minderheit geimpft, rund 4 bis 5 Prozent. Ich hoffe sehr, dass jetzt weitere Impfdosen ins Land kommen.
Die neue Bundesregierung hat sich zu umfassender Entwicklungszusammenarbeit und humanitärer Hilfe bekannt. Was erwarten Sie von der Ampel-Regierung?
Vor allem, dass Syrien endlich wieder auf die politische Agenda kommt. Wir dürfen die Augen nicht vor der extrem wachsenden Not verschließen und müssen die Finanzmittel bereitstellen, um die Menschen - vor allem jetzt im Winter - zu unterstützen. Nur wenn Kinder gute Bildung erhalten, haben sie eine Zukunftsperspektive.
Das Interview mit Angela Gärtner führte die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) (9. Dezember 2021)