Es gilt das gesprochene Wort
Sehr geehrte Damen und Herren,
Prälat Neher nannte eben die Summe der im vergangenen Jahr bei Caritas international eingegangenen Spendengelder. Es wird Sie vermutlich nicht verwundern, dass für Nordkorea, das ich gemeinsam mit Herrn Neher im Mai besucht habe, nur sehr wenige private Spenden eingegangen sind. Um exakt zu sein waren es 5674 Euro, die uns von zwölf Spendern im vergangenen Jahr zur Verfügung gestellt worden sind.
Nordkorea ist kein Land, das Sympathien weckt. Verwunderlich ist das nicht angesichts des politischen Systems, das einen zwangsläufig vor die Frage stellt: Darf man in Nordkorea, darf man überhaupt in einer Diktatur Hilfe leisten? Fragen wie diese beschäftigen die Öffentlichkeit in Deutschland und selbstverständlich auch uns immer wieder aufs Neue.
Bevor ich die Frage konkret beantworte, lassen Sie mich kurz schildern, wie wir in Nordkorea helfen: Die Ursprünge unserer Hilfe liegen im Jahr 1997, als die Bevölkerung aufgrund der wirtschaftlichen Probleme und einer Dürre unter einer extremen Hungersnot litt. Diese existenzielle Überlebenshilfe war der Beginn für die später folgende nachhaltigere Unterstützung der Menschen in den Bereichen Gesundheit und Altenhilfe, wie wir sie heute leisten. So haben wir beispielsweise mit Unterstützung der Bundesregierung in den vergangenen Jahren 3,8 Millionen Kinder gegen Hepatitis B, 3,1 Millionen Kinder gegen Japanische Enzephalitis und 2,4 Millionen Kinder gegen Masern und Röteln impfen lassen. Wir haben aber auch 84 Gewächshäuser gebaut, um die Versorgung von Tuberkulose-Patienten mit Obst und Gemüse zu verbessern.
Ein zweiter, relativ neuer, Schwerpunkt unserer Arbeit ist die Altenhilfe: Mit Unterstützung der deutschen Bundesregierung bauen wir zwei Altentagestätten in der Hauptstadt Pjöngjang sowie in einer der Provinzen auf. Wie bitter notwendig solche Art der Hilfe ist, erlebt derjenige, der die Möglichkeit hat, durchs Land zu reisen und die Not der alten und behinderten Menschen erlebt. Auch in Nordkorea lösen sich traditionelle Strukturen auf. Die Lebenserwartung ist gering und die medizinische Versorgung schlecht. Viele alte und behinderte Menschen bleiben zurück und erhalten keinerlei Unterstützung.
Bei dieser Art der Hilfe, wie wir sie leisten, kann man relativ gut sicherstellen, dass der einzelne Hilfsbedürftige profitiert und nicht das Regime. Wenn wir Kinder impfen oder Tuberkulose-Kranke behandeln, dann kommt die Hilfe direkt dem einzelnen Menschen zugute. Insofern gilt auch in Nordkorea, was weltweit für unsere Hilfsprojekte gilt: Unser Ziel als Caritas ist es, weltweit die Schwächsten der Gesellschaft zu stärken. Egal unter welchem Regime sie leben müssen und unabhängig von Nationalität, Religion oder ethnischer Zugehörigkeit. Gradmesser unserer Hilfe ist allein die Hilfsbedürftigkeit. Und dass es in Nordkorea viele Kinder, Senioren und Kranke gibt, die der Hilfe dringend bedürfen, daran bestehen für mich nach unserer Reise weniger Zweifel denn je.
Dass unsere Hilfe dabei gezwungenermaßen indirekt auch dem Systemerhalt dienen kann, weil der Leidensdruck ihrer Bürger gemindert wird, kann niemand, auch wir nicht, ausschließen. Dieses Dilemma gibt es in der humanitären Hilfe, auch in Nordkorea, aber nicht nur dort. Dass das Regime in Nordkorea die hauseigenen humanitären Probleme eigentlich lösen müsste, steht für uns auch außer Frage. Allerdings erleben wir in vielen Ländern, in denen wir als Caritas mit unseren Partnern tätig sind, dass Regierungen diesen Anspruch, das Wohlergehen ihrer Bürger in den Mittelpunkt ihres Tuns zu stellen, nicht erfüllen. Das ist ein Zwiespalt, mit dem wir in der humanitären Hilfe an vielen Orten der Welt leben müssen. Zum Beispiel im Südsudan oder in Syrien. Als nicht-staatliche und politisch neutrale Hilfsorganisation können und müssen wir aber versuchen, unabhängig vom politischen System die Menschen darin zu unterstützen, ihr Recht auf ein selbstbestimmtes Leben wahrzunehmen. Wir sehen die Menschen hinter dem System. Und das bedeutet im ersten Schritt zunächst einmal im elementaren Sinne: Frei von Hunger, Krankheit und Armut. Die Alternative zu diesem Handeln würde gegen die konstitutiven Werte des Humanitarismus in elementarer Weise verstoßen.
Aber umso genauer müssen wir schauen, ob die Hilfsgelder die von uns gesetzten Ziele erreichen. Oder ob die Projekte womöglich nur eine privilegierte Schicht erreichen. Die Antwort auf diese Frage betrifft die Grenzen von Hilfe im Allgemeinen, egal ob wir von Nordkorea, dem Kongo, Kolumbien oder Afghanistan reden. Voraussetzung jedweder Caritas-Hilfe ist, dass wir als Hilfsorganisation die Kontrolle über die Projekte behalten. Dass wir die Arbeit nach unseren Standards bezüglich Transparenz, Kontrolle und Abrechnung von Spendengeldern durchführen und so sicherstellen können, dass Gelder im ordnungsgemäßen Sinn verwendet werden. Wichtige Voraussetzungen dafür sind zum Beispiel Buch- und Berichtsprüfungen oder ungehinderte Projektbesuche. So kann unser Mitarbeiter in Korea zum Beispiel alle 150 von uns unterstützten Tuberkulose-Stationen im Land besuchen und sich ein Bild vom Fortgang der Projekte verschaffen; in der Regel auch unangemeldet. Wenn dem nicht so wäre, das aber ist genauso klar, müssten wir die Hilfe einstellen.
Als humanitäre Hilfsorganisation haben wir weder den Anspruch noch die Möglichkeiten, das System in Nordkorea zu verändern. Nichtsdestotrotz bemühen wir uns im Rahmen unserer Möglichkeiten, einen Dialog anzustoßen und Austausch zu fördern. Beispielsweise indem wir Mitarbeiter des nordkoreanischen Gesundheitsministeriums nach Deutschland einladen. Wenn ein hochrangiger Beamte mir im Gespräch dann sagt, dass er bis vor einigen Jahren noch dachte, dass Nordkorea das beste Gesundheitssystem der Welt habe, dann hinterlässt das insofern bei uns die vage Hoffnung, dass in allerkleinsten Schritten ein solcher Austausch über humanitäre Fragen auch ein weitergehendes Nachdenken beim Gegenüber auslösen kann. Dass unsere Hilfsprojekte, unsere Kontakte und die Fortbildungen für medizinisches Personal dazu beitragen, einen Dialog zu etablieren, Vertrauen aufzubauen und möglicherweise auch ein Fenster zur Welt in einem ansonsten abgeschotteten Land sein könnten.
Sehr geehrte Damen und Herren, lassen Sie mich nun noch einige Worte zur Hungersnot in Ostafrika sagen. Wir erleben in Ostafrika eine seit Jahren andauernde Dürreperiode, die das Getreide auf den Feldern verdorren lässt und zu gravierenden Nahrungsmittelengpässen führt. Aber wir dürfen uns nicht täuschen lassen: Hunger ist keine Naturkatastrophe, auch wenn Auslöser von Hunger oft Dürren und Trockenperioden sind. Tatsächlich müssten wegen Dürreperioden im Jahr 2017 eigentlich keine Menschen sterben. Denn als Antwort auf die verheerenden Hungersnöte der 70er und 80er Jahre sind eine Reihe von erstaunlichen Fortschritten in der vorbeugenden Hungerbekämpfung erzielt worden: Dank vieler Einzelmaßnahmen wie dem Bau Wasserrückhaltebecken, Tiefbrunnen, Zisternen und Wasserdämmen sowie Getreidespeichern und Silos können Dürren heutzutage weit besser als früher überbrückt werden. Nicht zuletzt haben auch deutlich präzisere Frühwarnsysteme entscheidend dazu beigetragen, dass rechtzeitig und gezielter geholfen werden kann. Dass die Zahl der chronisch hungernden Menschen in den vergangenen Jahrzehnten um mehr als 200 Millionen Menschen gesenkt werden konnte, ist ein augenscheinlicher Beleg für die Wirksamkeit dieser Maßnahmen.
All diese Maßnahmen, die in den vergangenen Jahren ergriffen worden sind, zeigen: Der Kampf gegen den Hunger kann gewonnen werden. Und wir sind deshalb der Meinung, dass dieser Kampf der vielen kleinen Schritte noch viel entschiedener, und das bedeutet: auch mit größerer finanzieller Unterstützung, angegangen werden müsste; auch von Seiten der deutschen Bundesregierung. Denn leider beträgt das Verhältnis von Nothilfe- und Vorsorge-Finanzierungen noch immer 9:1. Einem Euro für die Vorsorge stehen also 9 Euro für die Nothilfe gegenüber. Und das, obwohl bekannt ist, dass ein in der Katastrophenvorsorge investierter Euro sieben Euro in der Nothilfe spart. Wir meinen, es wäre an der Zeit, dass die Erfolge der Katastrophenvorsorge sich auch in einer substanziellen Finanzierung niederschlagen.
Greifen kann die Katastrophenvorsorge jedoch nur, das ist eine wichtige Einschränkung, in politisch einigermaßen stabilen Ländern. Wir sehen das aktuell in Ostafrika, wo in den von der Dürre betroffenen politisch stabilen Ländern Äthiopien und Kenia zwar auch Menschen an Hunger leiden. Aber die Menschen eben nicht verhungert sind, weil vorausschauend gehandelt werden konnte. Verhungert sind nur Menschen in den Bürgerkriegsländern Jemen, Somalia und Süd-Sudan, wo es für die Menschen und Hilfsorganisationen kaum möglich ist, in der Vorsorge tätig zu werden und nur unter Inkaufnahme großer Risiken möglich ist, Nothilfe zu leisten. Insofern zeigt sich auch in diesem Jahr wieder, dass Hungersnöte von Menschen verursacht oder aber von ihnen zumindest billigend in Kauf genommen werden. Erst die Untätigkeit von Staaten und Regierungen bzw. Kriege und politische Krisen lassen extreme Wettereignisse wie Dürren zu Hungersnöten werden. Trotz des Einsatzes vieler zumeist einheimischer Nothelfer wird deshalb nur ein entschiedenes politisch-diplomatisches Handeln der einflussreichen Staaten, zum Beispiel über den UN-Sicherheitsrat, in diesen Ländern eine Kehrtwende im Kampf gegen den Hunger bringen.
Kriege und politische Krisen sind Faktoren, die weitgehend dem Einflussbereich des Humanitären Systems entzogen sind. Wir haben in diesem Jahr aber auch ein Versagen der humanitären Hilfe in ihrem ureigenen Tätigkeitsfeld erlebt. Wieder einmal muss man sagen. Wieder einmal - wie schon im Jahr 2011 - gab es im vergangenen Jahr Monate vor Ausrufung der Hungersnot im Südsudan und Somalia bereits Warnungen vor der Katastrophe. Es gab auch präzise Vorhersagen zum Hilfebedarf, wann also wo mit wieviel Geld geholfen werden musste. Doch wie schon im Jahr 2011, als 260.000 Menschen starben, standen die benötigten 4,4 Milliarden Dollar viel zu spät zur Verfügung.
Ja, im Südsudan mussten in den Flüchtlingslagern sogar die Essensrationen der Menschen gekürzt werden, weil das für ihre Versorgung nötige Geld fehlte. Zu Recht wurde deshalb verschiedentlich von "unterlassener Hilfeleistung" für die Hungernden geschrieben. Es ist ein viel zu selten benannter Skandal, dass immer wieder Menschen sterben, weil das notwendige Geld nicht oder zu spät zur Verfügung steht. Wir unterstützen deshalb Forderungen nach flexiblen und schnell verfügbaren Finanzierungsmechanismen, mit denen Mittel für die Katastrophenhilfe zur Verfügung stehen, bevor die Krise eingetreten ist. Ein bei den Vereinten Nationen angesiedelter Weltkrisenfonds wäre ein wichtiger Schritt, um eine schnelle Reaktion bei Hungersnöten und anderen Katastrophen zu ermöglichen.
Es ist also recht eindeutig, was getan werden müsste, um den Hunger in Afrika und sinnloses Sterben zu verhindern: Ein Ausbau der Katastrophenvorsorge, die Einrichtung eines Weltkrisenfonds sowie ein frühzeitiges und entschiedenes politisch-diplomatisches Eingreifen einflussreicher Staaten bei sich anbahnenden Konflikten und Bürgerkriegen. Wir sollten nicht wieder wertvolle Zeit ungenutzt verstreichen lassen wie es nach der Hungersnot des Jahres 2011 leider geschehen ist.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Oliver Müller
Leiter Caritas international