Grenzenlose Hilfe: Wie die Caritas ukrainischen Flüchtlingen beisteht
Flucht aus der Ukraine
Alyona Sushko wurde von einem dumpfen Grollen wach. Die Wände ihrer Wohnung in Kharkiv wackelten. Ihr Kater Wenya verkroch sich unter der Bettdecke. Ihr erster Gedanke war, die Nachbarn feiern eine ausgelassene Party. In den sozialen Medien war zunächst nichts Auffälliges zu finden. Als 10 Minuten später eine Freundin anrief und ihr von den russischen Angriffen erzählte, wich die Verwunderung der Angst. Sie hatte nur wenige Minuten um das Wichtigste zu packen. Dann machte sie sich auf den Weg zur nächsten Metro-Station. Zwischen hunderten Menschen wartete sie, telefonierte mit Freunden und Familie und versuchte die Situation zu begreifen.
Schutz vor den Bomben suchte sie zunächst im Keller ihrer Mutter
Ihre 53-jährige Mutter Irina wohnt auf der anderen Seite der Stadt. Zu ihr zu gelangen bedeutete ein großes Risiko. Sie wagte es trotzdem. Freunde baten ihr an, sie zu begleiten. Die dumpfen Einschläge waren nun ununterbrochen zu hören. "Es war wie in einem Film”, erzählt Alyona. Krieg habe sie noch nie gesehen. Als sie das Haus ihrer Mutter erreichte, begaben sie sich sofort in den Keller. Es war kein befestigter Schutzraum. Nur ein einfacher Keller. "Schutzräume gibt es nicht genug in der Stadt”, erzählt sie. Niemand hatte sie auf solch eine Situation vorbereitet. Sie wusste nicht, was sie mitnehmen soll, was sie für die nächsten Tagen brauchen werden. Alle Geschäfte waren geschlossen. Sie hörte von anderen Städten, in denen die Versorgung noch funktionierte. Nicht in Kharkiv.
Alyona und ihre Mutter fühlten sich auch im Keller nicht sicher. An den Wänden liefen Warmwasserleitungen entlang, die Gefahr liefen zu platzen. In den ersten Tagen waren die Einschläge nur in der Ferne zu hören. Sie konnten hin und wieder in die Wohnung, um Essen und Kleidung zu holen, einmal konnte sie sogar kurz duschen. Doch am dritten Tag kamen die Bomben näher. Sie hörte die Panzer über die Straßen vor dem Haus rollen. Im stickigen Keller starrten alle auf ihre Telefone, verfolgten die Nachrichten und sahen Bilder ihrer zerstörten Straße in den sozialen Medien. Meldungen verbreiteten sich wie Lauffeuer, dass russische Soldaten in die Keller eindringen würden. Sie entschieden, dass es sicherer ist, sich in den Hausfluren aufzuhalten. Dort gab es Fluchtmöglichkeiten.
Am fünften Tag wurde das Essen knapp. Um Brot zu bekommen, standen sie fünf Stunden an. Unter Lebensgefahr. In ihrem alten Leben spielte sie in ihrer Freizeit Klavier und Violine. Sie ging gern mit Freunden aus, trank Wein und tanzte die ganze Nacht. Sie hatte einen Job, den sie liebte. In einem internationalen Unternehmen, das 3D-Modelle für die Gebäudekonstruktion erstellte. Nach der Arbeit saß sie oft mit ihren Kollegen zusammen. Sie bestellten mexikanisches Essen und schauten Filme auf Netflix. Doch jetzt saß sie in einem Keller und malt mit den Kindern Bilder, damit diese nicht zu große Angst bekamen.
Weiter fielen die Bomben auf Kharkiv. Panik setzte ein, sie konnte nur noch weinen. Alyona wurde klar, dass ihr altes Leben vorbei war. Sie versuchte ihre Mutter zu überzeugen mit ihr zu flüchten. Doch diese will ihre Heimatstadt nicht verlassen. Die Kinder und Mütter im Gebäude bräuchten sie, meinten sie zu ihr. Alyona packte schweren Herzens ihre Tasche. Ein Bekannter fuhr sie zum Bahnhof. Auf den Bahnsteigen warteten tausende Menschen. Keiner wusste, wann ein Zug kommen würde. Alyona hatte Glück. Nach zwei Stunden konnte sie in einen Zug steigen, der sie nach Lviv bringen würde.
26 Stunden lang war sie eingeklemmt zwischen anderen Passagieren. Sie konnte sich kaum bewegen. Alles war dunkel. Es durfte kein Licht brennen, damit der Zug in der Dunkelheit nicht erkannt wird. Selbst ihre Telefone durften die Passagiere nur abgedunkelt nutzen. Zu groß war das Risiko entdeckt zu werden. In der Ferne die Bombeneinschläge. "Ein Gewitter”, erzählte sie den Kindern um sich herum. Als sie nach Kiew hineinfuhren sah sie die zerstörten Fenster an den Häusern. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, als sie zwei Stunden am Kiewer Hauptbahnhof Halt machten und weitere Passagiere aufnahmen.
"Ich hätte nie erwartet, dass ich auf so eine Hilfsbereitschaft stoße"
Alyona fühlte sich allein, als sie in Lviv aus dem Zug stieg. Freiwillige Helfer brachten ihr etwas zu Essen und heißen Tee. Sie aß das erste Mal seit 26 Stunden. Sie wartete neun Stunden auf die Weiterfahrt. Sie wusste nicht, wie weit es noch zur polnischen Grenze war. Später erfuhr sie, dass es nur etwa 80 Kilometer waren. Es dauerte weitere 19 Stunden, bis sie in Polen ankam. Es gab nichts zu Essen. Kinder weinten. Keiner konnte das Abteil verlassen. Die Türen waren verschlossen. Der Zug bewegte sich unregelmäßig. Als sie endlich im polnischen Przemysl ankam und all die Hilfe sah, die angeboten wurde, hatte sie Tränen in den Augen. Alyona richtete sich darauf ein, wieder irgendwo auf dem Boden schlafen zu müssen. "Damit habe ich inzwischen Erfahrung”, sagt sie. Doch dann sprachen sie Helfer der Caritas Polen an und boten ihr die Unterkunft in der Grundschule Nr. 6 in Przemysl an. Die lokale Feuerwehr sorgte für den Transport. Zusammen mit einer Familie fuhren sie Alyona zur Schule. Mit Blaulicht und Sirene. Sie seien VIPs sagten die Feuerwehrleute zu ihnen.
Das Ziel ihrer Flucht: Ihr Stiefbruder in Kanada
Alyona möchte über Deutschland nach Kanada reisen. Dort lebt ihr Stiefbruder in Montreal. Am Sonntag steht Alyona in der Bahnhofshalle von Przemysl. Wieder muss sie warten. In fünf Stunden fährt ihr Zug nach Rzepin an der deutschen Grenze bei Frankfurt/Oder. Sie telefoniert mit Freunden und ihrer Mutter Irina in Kharkiv. Die Bombardierung sei schlimmer geworden, Nahrungsmittel noch knapper, berichtet ihre Mutter. Noch ist ihre Mutter nicht bereit die Stadt zu verlassen. Das macht Alyona Angst. Sie versucht sie zu überzeugen. Ihr einziges Ziel ist es, wieder als Familie vereint zu sein. Egal wo. Natürlich am liebsten in ihrer Heimat. Um 18:00 Uhr steht sie im kalten Wind auf dem Gleis. Die Reise geht weiter. Erst nach Berlin, dann nach Düsseldorf. Ob sie in Deutschland auch so eine Hilfe, wie hier in Polen erwarten könne, fragt sie sich. Sie zieht den Schal über den Kopf. 80 Minuten Verspätung zeigt die Anzeige. Alyona zuckt mit den Schultern.