Äthiopien: Nothilfe im Kriegsgebiet
Tigray: Hilfe durch das Kinderzentrum
Der erste Drehtag beginnt in aller Herrgottsfrühe. Die Morgenluft ist kühl und der Himmel zeigt erste Anzeichen von Dämmerung. Wir - das sind mein Kollege, der für Foto und Film verantwortlich ist, und ich -, sind aufgeregt und gespannt. Kaum steigen wir aus dem Auto weht uns der Geruch von Feuer um die Nase.
Süßer Tee und zwei Brötchen – ein heiß ersehntes Frühstück für die Jugendlichen in den frühen Morgenstunden, bevor sie in die Schule gehen.Foto: Sebastian Haury
Das Küchenteam im Kinderzentrum der Daughters of Charity, fünf Frauen, sind bereits seit einer Stunde im Zentrum und bereiten das Frühstück für die Kinder vor. Holz wird in die Holzbrennöfen geschichtet und angezündet, die Frauen fächern den Flammen zu, damit das Feuer schneller lodert. In großen Kesseln wird das Wasser für den Tee gekocht. Dann werden die Teeblätter mit dem kochenden Wasser in einem Teesieb übergossen, wieder und wieder. Zum Schluss kommt Zucker hinein."Die Kinder brauchen Energie am Morgen, damit sie Kraft haben, für die Schule", erklärt die Köchin. "Es kann ihnen nicht süß genug sein, Zucker ist für sie etwas Besonderes."
Mittlerweile ist der Bäcker vorbeigekommen, große Säcke mit Brötchen werden geliefert. Die Köchinnen wiegen die Säcke sorgfältig ab, der Kauf und die gelieferten Kilogramm werden notiert, der Bäcker quittiert.
Es ist hell geworden. Die ersten Kinder kommen ins Zentrum. Ab 7 Uhr sind die Pforten geöffnet und die Kinder waschen sich die Hände und stehen an, um sich Tee und ihre zwei Brötchen zu holen. Auch Temesgen ist schon da. Nach dem Frühstück verlässt er mit seinen Freunden das Zentrum und macht sich auf dem Weg zur Schule.
Temesgen auf dem Weg zur Schule. Er steht kurz vor seinem Schulabschluss und möchte anschließend Psychotherapie auf der Universität studieren.Foto: Sebastian Haury
Nach 8 Uhr wird es leiser. Für das Küchenteam geht die Arbeit weiter. Es werden Zwiebeln und Tomaten geschnitten für das Mittagessen. Jeden Tag kommen über 300 Kinder und Jugendliche ins Zentrum. Das Mittagessen garantiert Energie fürs Lernen und entlastet die Familien sehr.
Kurz vor 13:00 Uhr wird es lebendig: Die Jugendlichen kommen aus der Schule, waschen sich die Hände und freuen sich schon auf das Mittagessen. Danach starten die unterschiedlichen Programme: Computerkurse, Englischkurse, Kreatives Schreiben, Präsentieren über oder verschiedene Sportprogramme.
Am Nachmittag, als das Zentrum sich langsam zu leeren beginnt, treffen wir Temesgen. Er erzählt uns von den schlimmsten Jahren seines Lebens:
"Während der Corona-Pandemie waren die Schulen geschlossen, auch das Center war geschlossen. Aber wir konnten uns jede Woche einmal Nahrungsmittel und Waschpulver abholen. Das hat uns über die Zeit geholfen. Für meine Familie wollte ich dringend Geld verdienen. Ich war so froh, dass Daniele (ein ehemaliger Schüler des Zentrums, Anm. d. Redaktion) mich in seiner Schreinerei für Hilfsarbeiten engagiert hat. Das hat zumindest etwas Geld für Essen und die Miete gegeben."
Dann wird Temesgens Stimme sehr leise. "Aber Corona war nicht das Schlimmste", sagt er. "Das Schlimmste war der Krieg. Wir sind zuhause geblieben. Wer auf der Straße lief, konnte jederzeit einer Patrouille in die Hände fallen. Und was dann passiert ist, kann ich nicht erzählen …"
Mit gedämpfter Stimme fährt er fort: "Abends kamen die Bombenangriffe. In einer Nacht wurde unser Zimmer getroffen. Eine Kugel schlug durch das Wellblechdach, mein Bruder wurde an der Seite getroffen. Es war alles voller Blut. Wir wussten nicht, was passiert war. Er schrie und ich nahm ein T-Shirt, drückte es auf die Wunde. Wir legten ihn auf den Boden. Draußen knallte es immer weiter. Als es ruhiger wurde, trugen wir ihn zum Krankenhaus. Sie haben seine Wunde notdürftig verbunden, aber sie hatten keine Medikamente. Er lag vier Tage im Krankenhaus, ohne dass man ihm helfen konnte. Ich blieb bei ihm. Er fragte nach Wasser, aber ich durfte ihm kein Wasser geben, sagte der Arzt. Dann hat sich die Wunde entzündet, es blieb den Ärzten keine Wahl, sie mussten sein Bein amputieren."
Temesgen stockt. "Es war die schlimmste Zeit in meinem Leben. Der Krieg, die Angst, der Hunger. Die Sozialarbeiter aus dem Zentrum waren sehr mutig. Sie haben uns jede Woche besucht und uns Lebensmittel gebracht. Sonst wären wir verhungert. Einfach verhungert."
Temesgen mit seinem Bruder Aaron, seiner Mutter und seiner Großmutter. Sie leben zu fünft in einem kleinen Raum von rund 20 Quadratmetern.Foto: Sebastian Haury
Das Interview mit Temesgen geht uns tief unter die Haut. Und wir danken ihm, dass er so offen und mit Vertrauen zu uns spricht. "Es ist wie eine Art Therapie, sagt er, es hilft mir, darüber zu sprechen. Auch wenn ich danach sehr traurig bin." "Die Erfahrungen aus dem Krieg sind furchtbar gewesen, viele Menschen hier sind traumatisiert. Ich mache in ein paar Wochen mein Examen und dann will ich auf der Universität Psychotherapie studieren. Ich will den Menschen helfen, wieder gesund zu werden, um diese schwierige Zeit bewältigen zu können. Zuvor wollte ich immer Geschichte studieren, das macht aber jetzt wirklich keinen Sinn mehr."
Temesgen redet offen über seine Erfahrungen im Krieg. Der Schmerz sitzt tief. Trotzdem gibt er nicht auf.Foto: Sebastian Haury
Die Erfahrungen aus dem Krieg prägen die Menschen in Tigray, viele sind tief traumatisiert. Das Kinderzentrum ist ein Ort, der den Kindern und Jugendlichen, die so Schreckliches erlebt haben, Halt gibt. Die Kraft weiterzumachen und nach vorne zu schauen. Temesgen steht sinnbildlich für diesen Durchhaltewillen.