"Viele schämen sich"
Ich bin seit fast einer Woche im Libanon, habe unzählige Geschichten gehört, viel Leid gesehen, große Angst gespürt. Immer wieder muss ich in diesen Tagen an einen Mann denken, dem ich in Baalbek begegnet bin. Es ist eigentlich eine ganz unspektakuläre Geschichte, und dennoch geht sie mir nach.
In selbstgebauten Zelten, Scheunen, in Kellern und Schulgebäuden müssen die Menschen auf engstem Raum zusammenleben.
Unsere Bekanntschaft hat eigentlich gar nicht gut begonnen. Ich wollte in dem Zimmer, in dem seine Familie untergebracht ist, die Wand fotografieren, auf die Kinder unzählige Tictactoe-Spiele gemalt hatten. Kreis, Kreuzchen, Kreis - und wer zuerst drei hat, gewinnt. Aber dieser Mann sagte "Keine Fotos." Auch nicht von der Wand? "Nein". Die Übersetzerin erklärte mir, er komme aus einer wohlhabenden Familie und schäme sich für die Situation, in der die Familie jetzt, wenn auch ganz unverschuldet, ist. So ging ich nach draußen, um Kinder zu fotografieren, die auf dem Innenhof Fußball spielten.
Rund um mich herum standen immer mehr Männer und ich wollte ihnen erklären, wofür ich die Fotos brauche: dass ich für Caritas von Menschen berichten soll, die unter diesem Krieg leiden. Von Menschen, die dringend Unterstützung brauchen, weil sie ihre Heimat verlassen mussten, vor einem brutalen Krieg geflohen sind. Nicht von Opferzahlen und Statistiken will ich sprechen, sondern von jenen, denen der Krieg alles genommen hat. Von jenen, die in ihrem Zuhause nicht mehr sicher waren. Ob es die Regierungssoldaten oder die Revolutionssoldaten waren, die sie bedrohten haben; welche der beiden Kriegsparteien die Granaten, Bomben oder Schüsse gefeuert hat - die Konsequenz für die Zivilbevölkerung in Syrien ist die selbe: die Menschen müssen meist nur mit dem, was sie tragen können, fliehen.
Die Verhältnisse sind extrem beengt
Sie kommen im Libanon an, können bei Bekannten wohnen, suchen sich eine winzige Wohnung oder bekommen einen Raum zugewiesen. Ein Massenlager in einer Schule, eine Garage, ein Zelt. Oder eben, wie der Mann, der mir das Fotografieren untersagt hat, ein Zimmer in einer Koranschule. Bis dahin wusste ich aber nicht, dass er 10 Kinder hat. Vater, Mutter und die Kinder in einem Raum. Das erklärte mir sein ältester, erwachsener Sohn in fließendem Englisch. Nach kurzer Zeit tritt sein kleinerer Bruder aus der Menge, um die 17 Jahre alt, und beginnt mir zu erzählen, dass er gerne nach Deutschland würde um dort zu studieren - in fast perfektem Deutsch. Für ihn sei es ein großes Problem, dass er hier im Libanon niemanden finde, mit dem er deutsch sprechen könne. "Ich habe Angst, dass ich hier viel vergesse. Wissen Sie," sagt er mir, "ich würde gerne nach Deutschland. Aber die - wie ist das Wort? - Bankbürgschaft ist so teuer. Es wäre am besten, wir könnten bald wieder zurück nach Syrien." Da schaltet sich ein anderer Mann ein. "Ja, wir möchten wirklich bald zurück. Es tut uns weh zu sehen, wie unser schönes Land kaputt gemacht wird, und wir nichts dagegen tun können."
Im Gespräch realisierte ich, dass ich in einer Gruppe von Menschen stand, die in Syrien ein ähnliches Leben geführt haben wie ich in der Schweiz. Und ich fragte mich dort im Innenhof dieser Moschee in Baalbek, wie es für mich wäre, wenn ich mein Haus verlassen müsste, Hals über Kopf, unfreiwillig, weil mein Leben vom Krieg bedroht ist. Wenn ich plötzlich mit meinen Geschwistern ein Zimmern teilen müsste, monatelang. Statt einem schönen Badezimmer ein Waschbecken für mehrere Familien. Kein Internet. In Kleidern, die andere nicht mehr möchten und in der Altkleidersammlung entsorgen. Dankbar? Vielleicht. Beschämt? Sehr! Als ich gehe, ruft mir einer nach: "Wir sehen uns in Syrien. - Hoffentlich."
25. September 2012
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