Projektbesuch im Schmelztiegel Kabul
Als ich gefragt wurde, ob ich als Länderreferentin für Humanitäre Hilfe die Koordination der Projekte in Afghanistan übernehmen möchte, habe ich etwas gezögert. Afghanistan ist aufgrund der anhaltend prekären Sicherheitslage und den enormen Herausforderungen, vor denen die Humanitäre Hilfe in diesem Land steht, kein Land, um das die Kolleg*innen einen beneiden. Aber als Islamwissenschaftlerin mit Arabisch- und zumindest bescheidenen Persischkenntnissen fühlte ich mich gut gewappnet. Seit Oktober 2019 bin ich nun Referentin für Afghanistan, seither war ich zweimal auf Projektbesuch vor Ort.
Das Engagement von Caritas international in Afghanistan ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Normalerweise arbeiten wir in unseren Projektländern mit der Ortskirche und ihrer Caritas als erster Anlaufstelle zusammen. Aber weil es diese im Land am Hindukusch nicht gibt, haben wir über die Jahrzehnte - in denen wir während verschiedener Krisen Humanitäre Hilfe leisteten - selbst ein Landesbüro eingerichtet. Das erlaubt uns, nahe an unseren lokalen Projektpartnern und der Realität vor Ort zu sein. Die Projekte decken eine große Bandbreite der Nothilfe ab, von Nahrungsmittelhilfen über die Arbeit in Frauengruppen bis zur Trinkwasserversorgung. Eines der großen alltäglichen Probleme der Menschen ist nämlich der mangelnde Zugang zu Trinkwasser. Also bohren oder graben wir Tiefbrunnen, legen Zisternen an und bauen Rohrsysteme sowie Solaranlagen, mit denen das Grundwasser an höher gelegene Orte gepumpt und dann an dezentrale Wasserhähne im Dorf verteilt wird. Die Erdarbeiten erbringen die Dorfgemeinschaften oft in Eigenleistung. Für diese körperlichen Arbeiten zum Wohle der Gemeinschaft erhalten die Menschen einen bescheidenen Lohn.
Vertreibung gehört zum Alltag
Einen großen Bedarf gibt es auch an psychosozialer Unterstützung für alle Altersgruppen. Vor meiner ersten Reise gab mir meine Referatsleiterin noch mit auf den Weg: "Denk daran, dass im Prinzip alle, mit denen du zu tun hast, in irgend einer Art und Weise traumatisiert sind! Sie haben vielleicht noch nie in Frieden gelebt, wurden vertrieben oder sind geflüchtet, haben nahe Angehörige verloren und sind Zeugen oder Opfer von Gewalt geworden."
Dies zeigt sich auch bei der Planung der Hilfe für Vertriebene und Flüchtlinge. Afghanistan ist mit einer der schwersten internen Vertreibungskrisen der Welt konfrontiert. Die afghanische Regierung ringt mit den Taliban und einer Vielzahl bewaffneter krimineller Gruppen um die Vorherrschaft und kontrolliert schon lange nur noch einzelne Teile des Landes. Aufgrund dieser Gewaltkonflikte kam es allein im Jahr 2019 in Afghanistan laut IDMC[1] zu 461 000 neuen Vertreibungen. Neben den wiederkehrenden Gewaltkonflikten führen aber auch Naturkatastrophen, vorwiegend Dürren und Überschwemmungen, dazu, dass viele Menschen ihren Wohnort verlassen müssen.
Vertreibung ist für viele Afghaninnen und Afghanen deshalb ein unvermeidlicher Teil ihres Lebens geworden, in einigen Fällen über zwei Generationen hinweg. Diese ohnehin sehr schwierige Situation wird durch weit verbreitete Arbeitslosigkeit, Armut, Landlosigkeit und fehlende Grundversorgung noch verkompliziert.
Die Hauptstadt Kabul fungiert dabei als Schmelztiegel. Hierher strömen Menschen aus dem ganzen Land, wenn an ihrem bisherigen Wohnort erneut die Gewalt eskaliert oder ihr Überleben durch Dürre oder Überschwemmung gefährdet ist. Bei meinem zweiten Projektbesuch, den ich aufgrund des Covid-19-Ausbruchs vorzeitig abbrechen musste, kamen außerdem gerade Tausende Rückkehrer aus dem Iran in Kabul an, weil im Iran die Infiziertenzahlen in die Höhe geschossen waren. Viele Afghanen arbeiten im Nachbarland für einen Hungerlohn als einfache Hilfsarbeiter. Aufgrund der Corona-Beschränkungen waren sie von einem Tag auf den anderen arbeitslos geworden. Sind sie rückkehrende Arbeitsmigranten? Zurückgeschobene Flüchtlinge? Viele von ihnen waren, bevor sie die Landesgrenze zum Iran überquert haben, bereits Vertriebene, also Binnenflüchtlinge im eigenen Land.
Überleben von Tag zu Tag
Neuankömmlinge ohne Einkommen oder Perspektive stranden in Kabul oft in einem der zahlreichen informellen Lager ohne Basisinfrastruktur. Was das heißt, erahne ich, als ich einen Vormittag lang in einem solchen Lager am Stadtrand durch Schlamm wate, weil es geregnet hat und alles aufgeweicht ist - und dazwischen steht Kloake und spielen die Kinder. An einem aus dem Erdboden ragenden Rohr stehen Menschen an, um Wasser zu holen. Für mich sieht das eher nach einem Rohrbruch aus als nach einer Wasserstelle. Als ich ein halbes Jahr zuvor ein ähnliches Lager besuchte, war alles staubtrocken, die Sonne brannte unbarmherzig, kein Baum spendete Schatten. Im Winter hingegen, so erzählen mir die Kollegen, brechen die Dächer der improvisierten Hütten und baufälligen Häuser manchmal unter der Schneelast zusammen.
Die Menschen in diesen Lagern versuchen von Tag zu Tag zu überleben. Irgendetwas zu Geld machen - die eigene Arbeitskraft, den eigenen Körper. Oder sich etwas beschaffen, egal auf welche Weise. Seit einiger Zeit ist die Kleinkriminalität in Kabul extrem auf dem Vormarsch. Oder sich mit Drogen zudröhnen, damit man das alles ertragen kann. Dafür werden sogar Nieren verkauft oder Kinder mit Drogen gefügig gemacht, um für ihre Eltern anschaffen zu gehen.
Mit unseren Mitteln können wir diesen grausamen strukturellen Kreislauf des Elends nicht grundlegend durchbrechen. Aber unsere Hebammen und Sozialarbeiterinnen können den werdenden Müttern und den Familien mit Rat und Tat zur Seite stehen, und unsere Psychotherapeuten helfen, Konflikte zu lösen und häusliche Gewalt zu mindern. Und wenn wir es schaffen, dass die Menschen zumindest wieder ein Licht am Ende des Tunnels sehen, dann hat sich im Leben dieser Menschen etwas zum Guten verändert. Trotz Corona und Taliban - ich freue mich jetzt schon auf meinen nächsten Besuch in Afghanistan. Auf außergewöhnliche Begegnungen mit Menschen, die auf unsere Solidarität hoffen, und auf manche Tasse grünen Tee.
Vera Jeschke ist seit einem Jahr Afghanistan-Referentin bei Caritas international. Davor koordinierte sie die Hilfen für Syrien während des Bürgerkriegs und für Sierra Leone nach der Ebolakrise.
[1] IDMC internal displacement monitoring center