Sehr geehrte Damen und Herren,
herzlich begrüße ich Sie zur Jahrespressekonferenz von Caritas international, dem Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes hier an dessen Sitz in Freiburg und an Ihren Rechnern in der Republik.
Auch in diesem Jahr muss diese Pressekonferenz unter Corona-Bedingungen stattfinden. Aber daran haben wir uns inzwischen mehr oder weniger gewöhnt. Wir freuen uns darüber, dass wir dennoch einige Vertreterinnen und Vertreter der Medien persönlich hier bei uns begrüßen können.
Zuerst gebe ich Ihnen einen Überblick über einige Zahlen und Daten zum vergangenen Jahr. Dann werden wir einen Blick auf die griechische Insel Lesbos werfen. Herr Dr. Müller, der Leiter von Caritas international, war bis Samstag vor Ort und kann uns ganz aktuell über die Situation berichten. Die Umstände dort beschäftigen uns schon lange; ein paar Anmerkungen zur europäischen Asyl- und Migrationspolitik sind daher angebracht. Und natürlich zwingt uns die globale Gesundheitskrise, über unsere weltweite Projektarbeit unter Pandemiebedingungen zu sprechen, die eine besondere Herausforderung darstellen.
Ein weiterer Blick geht über das vergangene Jahr hinaus: Diese Jahrespressekonferenz findet in einem Jubiläumsjahr statt: Die Auslandshilfe des Deutschen Caritasverbandes feiert ihr 100jähriges Jubiläum.
Beginnen möchte ich aber, wie gesagt, mit Zahlen, verbunden mit dem ganz besonderen Dank an die 134.175 Spenderinnen und Spender, die uns im vergangenen Jahr unterstützt haben. Mit einer sehr bemerkenswerten Höhe an Spenden von mehr als 36,7 Mio. Euro!
Das will ich deswegen besonders betonen, weil das Jahr 2020 für alle Menschen kein einfaches Jahr war. Die Pandemie hat uns allen viel abverlangt. Und dennoch hielt die Empathie unserer Spenderinnen und Spender für die Not der Menschen in der Welt allen Widrigkeiten Stand. Sie waren trotz der Gesundheitskrise im eigenen Land bereit, über den Tellerrand hinaus auch das Leid der Menschen in der Welt zu sehen. Und sie haben uns ihr Vertrauen geschenkt, dieses Leid zu lindern. Vielen Dank dafür.
Das gilt auch für die Diözesen und kirchliche Einrichtungen, für die Caritas überhaupt und Stiftungen. Sie haben ebenfalls erheblich dazu beigetragen, dass wir 2020 den Menschen mit 683 Projekten in 74 Ländern helfen konnten. Insgesamt lag der Mitteleinsatz in allen Projekten bei knapp 82,7 Mio. Euro - bei einem weiterhin sehr niedrigen Personal-, Verwaltungs- und Sachkostenaufwand von nur 9 Prozent. Den Mitteleinsatz konnten wir im Vergleich zum Vorjahr erneut erhöhen.
An dieser Stelle muss ich an den weiterhin steigenden Bedarf für Humanitäre Hilfe erinnern. 2020 waren 439 Mio. Menschen weltweit in Not, gegenüber 167 Mio. ein Jahr zuvor. Der sprunghafte Anstieg ist vor allem auf die Pandemie zurückzuführen. 38,5 Mrd. US-Dollar wurden für Humanitäre Hilfe von den Vereinten Nationen gefordert; fast 10 Mrd. wurden davon für Corona-Hilfen benötigt. Damit sollte die Ausbreitung des Virus bekämpft und die zum Teil gravierenden Folgen von Lockdown-Maßnahmen für die Menschen vor allem in den Ländern des Globalen Süden reduziert werden. Doch nicht einmal die Hälfte (49,7 Prozent) der Mittel wurde bereitgestellt. Die Finanzierungslücke wächst weiter.
Der Bedarf an Humanitärer Hilfe steigt aber auch deshalb, weil die Welt nicht friedlicher geworden ist. Die Zahl der Kriege ist im vergangenen Jahr von 15 auf 21 gestiegen. Dabei wird "Vertreibung" als bewusste Strategie immer häufiger eingesetzt. Und es häufen sich gewaltsame Konflikte, welche die Klimaveränderung zur Ursache haben, wie etwa der Kampf um Wasser oder Weideflächen.
Die Sub-Sahara ist ein Beispiel dafür: Fünf der acht weltweit schwersten Ernährungskrisen ereignen sich in Äthiopien, der Demokratischen Republik Kongo, in Nigeria, im Sudan und im Südsudan. Allein 2019 waren 95,6 Mio. Menschen akut von Extremwetterereignissen betroffen; die Zahl der damit verbundenen jährlichen Katastrophen hat sich in den letzten 20 Jahren von 200 auf 400 verdoppelt.
Erhöht haben sich auch die Zahl der Binnenflüchtlinge auf 48 Mio., wie überhaupt die Zahl der Geflüchteten auf den Rekordwert von 82,4 Mio. weiter anstieg. Das ist ein Plus von 4 Prozent gegenüber 2019. Eine besorgniserregende Entwicklung.
Besorgniserregend waren in der Vergangenheit auch die Bedingungen für Geflüchtete sowie Migrantinnen und Migranten auf den griechischen Inseln. Wie es aktuell dort aussieht berichtet Ihnen nun Herr Dr. Müller. Er kam erst am Wochenende von Lesbos zurück.
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Dr. Oliver Müller: Die Situation auf Lesbos
Statement: Lesbos/ Griechenland
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Aus dem Berichteten kann man nur ableiten, dass es höchste Zeit für eine gesamteuropäische Migrations- und Flüchtlingspolitik ist - was wir nicht zum ersten Mal fordern. Die Europäische Union muss ernsthaft beginnen, sie zu organisieren - vielleicht auch zunächst nur mit denen, die dazu bereit sind.
Sich nach außen hin abzuschotten, ist jedenfalls keine Lösung. Menschen in Not werden weiterhin versuchen, nach Europa zu gelangen. Und das muss auch künftig möglich sein. Pläne der EU, sogenannte kontrollierte Zentren auf den Inseln zu bauen (ein Pilotprojekt der EU soll auf Lesbos bis März 2022 entstehen), sind aus humanitärer Sicht ein vergiftetes Angebot, weil sie diese Abschottung unterstützen. Die Pläne sehen vor, dass ein Großteil der Geflüchteten nach einem Screeningverfahren ihr Asylverfahren an der Grenze durchführen müssten. Wird der Asylantrag abgelehnt, müssten die Menschen bis zu ihrer Abschiebung in den Camps verbleiben. Für viele würde dies bedeuten, dass sie monatelang unter haftähnlichen Bedingungen leben müssten. Zudem würden die kontrollierten Zentren in absehbarer Zeit unweigerlich wieder überfüllt sein. Zustände wie in Moria drohten sich so zu wiederholen. Die bisherige Praxis hat gezeigt, dass faire Verfahren und effektiver Rechtsschutz für Schutzsuchende mit ihren vielfältigen Vorgeschichten jedenfalls an den Grenzen nicht gewährleistet werden können. Die Menschen mussten in der Vergangenheit im Schnitt 10 Monate auf ihre Anhörungen warten. Viel zu lange, meinen wir. Wenige Wochen sollten für ihre Registrierung und Identitätsklärung ausreichen.
Es geht also grundsätzlich darum, dass das Schutzbegehren von Schutzbedürftigen, in fairen, rechtstaatlichen Verfahren unter humanen Bedingungen geprüft wird. Wir brauchen eine neu geordnete Asylpolitik in Europa. Möglicherweise muss Deutschland mit anderen EU-Staaten vorangehen, wenn der große gesamteuropäische Wurf politisch erst einmal nicht umsetzbar ist - was ich nüchtern betrachtet, so vermute.
Es ist klar, dass der Kontext unserer Hilfen im Ausland oftmals seine Wirkung bis ins Inland hat. Das ist nicht trivial und macht die Arbeit des Deutschen Caritasverbandes im Inland und im Ausland mit seinem Hilfswerk Caritas international so besonders. Es ist eine Konstellation, die vor 100 Jahren mit der ersten Hilfsaktion für Sowjetrussland ihren Anfang nahm und uns in vielen Fragestellungen bis heute beschäftigt.
Ein Kernprinzip Humanitärer Hilfe betrifft Neutralität und Unabhängigkeit. Eine Zäsur dafür war der Krieg um Biafra Ende der 1960er Jahre in Westafrika. Damals wurde Hunger bewusst als Waffe eingesetzt und nur unter Missachtung der Souveränität des nigerianischen Staates war Humanitäre Hilfe möglich. Prälat Georg Hüssler, der langjährige Präsident des Deutschen Caritasverbandes, der gerade die internationale Arbeit des Verbandes ganz besonders geprägt hat, begründete dies so: "Es war keine Zeit zu fragen, es war die Zeit zu handeln." Wie weit würde man heute gehen? Auch in Äthiopien, im aktuellen Konflikt um Tigray wird Hunger ganz offensichtlich wieder als militärisches Mittel eingesetzt; Humanitäre Hilfe wird politisch instrumentalisiert und bewusst blockiert.
Syrien ist ein anderes Beispiel, wo wir klar sagen, wir helfen den notleidenden Menschen und nicht den Machthabern, auch wenn wir in vom Regime kontrollierten Gebieten arbeiten. Es wäre nicht zu rechtfertigen, den Menschen, die dort leben, die helfende Hand zu verweigern. In einem Land, das sich seit über zehn Jahren im Krieg befindet, in dem 90 Prozent der Bevölkerung mit nur zwei Dollar täglich auskommen müssen; in dem die Kinder nur den Krieg und zerstörte Städte, aber keine Schulen oder Spielplätze kennen?!
Bei meinem Besuch 2018 in Syrien, zusammen mit Erzbischof Burger, war ich über das brutale Ausmaß der Zerstörung erschüttert. Wir waren auch in Aleppo und Homs - ganze Städte in Schutt und Asche. Und ich war beeindruckt von den Menschen, die dennoch ausharren und in Ruinen leben. Dabei hilft die Caritas allen, die selbst unter diesen Umständen ihre Heimat nicht verlassen wollen - ungeachtet von Religion und Herkunft. Aber wir müssen nach über zehn Jahren Krieg und Nothilfe dahin kommen, dass die Menschen ihre Geschicke wieder selbst in die Hand nehmen können. Und da reicht humanitäre Hilfe allein schon lange nicht mehr aus.
Das Beispiel Afghanistan zeigt, wie Menschen durch unsere Hilfe gerade auch in der Krise gestärkt werden können.So arbeitet die Caritas bereits seit 35 Jahren in Afghanistan daran, die Lebensgrundlagen der Menschen zu verbessern. 2004 habe ich dort bei meiner ersten großen Auslandsreise als Präsident des Deutschen Caritasverbandes junge Frauen bei einer Verteilaktion von Lebensmitteln gesehen, in deren Gesichtern das ganze Leid und die Not abzulesen waren. Das hat mich mehr als berührt und mir klar gemacht, dass sich die Situation nur dann verbessern lässt, wenn Hilfe für lange Zeit geleistet wird. Solch ein Versprechen kann die Caritas geben, weil wir mit Partnern vor Ort arbeiten, die sich auskennen und am besten wissen, was die Menschen brauchen; und die auch nach der Krise weiter vor Ort sind. Das ist ein weiteres wichtiges Prinzip unserer Arbeit.
Oder 2019 war ich in Kenia. Ich besuchte die wüstenähnliche Region Marsabit im Nordosten des Landes. Die Menschen leiden dort immer wieder an extremen Dürren und benötigen mittlerweile regelmäßig Hilfen, um zu überleben. Seit einigen Jahren werden diese Dürren immer ausgeprägter, die Regenzeiten fallen ganz aus oder sind verkürzt. Zugleich werden die punktuellen Starkregenereignisse heftiger und führen nicht selten zu Sturzfluten und Überschwemmungen. Vor eineinhalb Jahren fielen zudem in Ostafrika Heuschreckenschwärme ein, welche die Ernährungssituation zusätzlich erschweren.
Diese Entwicklungen sind ein Ergebnis der klimatischen Veränderungen und verändern auch unsere Arbeit. Humanitäre Hilfe muss präventiver werden, um Menschen angesichts von drohenden Katastrophen stärken zu können.
Allein an diesen Beispielen wird deutlich, dass die Krisen immer komplexer werden und die Antworten darauf alles andere als einfacher. Das ist nichts Neues, sondern ein Prozess, den die Humanitäre Hilfe des Deutschen Caritasverbandes im Ausland seit 100 Jahren charakterisiert. Tatsächlich lernen wir ständig dazu. Auch in der Pandemie.
Wie unsere Arbeit im vergangenen Jahr unter diesen Bedingungen ausgesehen hat, wird Ihnen nun Herr Dr. Müller berichten.
Ihnen danke ich schon einmal für Ihre Aufmerksamkeit!
Prälat Dr. Peter Neher
Präsident des Deutschen Caritasverbandes