"Bei uns gibt es keine Rückfälle!"
Durch einen andauernden Grenzkonflikt herrschte jahrzehntelang Eiszeit zwischen Äthiopien und dem Nachbarland Eritrea. Seit Anfang Juli haben die beiden Länder nun erstmals wieder diplomatische Beziehungen aufgenommen. Inwiefern ist ein mögliches Ende dieses Konflikts spürbar?
Gemeinsam mit Caritas international hilft Ordensschwester Sr. Medhin Tesfay Straßenkindern im Nordosten Äthiopiens.Caritas international
Spürbar ist vor allem die Hoffnung: Die Menschen hoffen auf Frieden und darauf, dass sich die Beziehung zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen verbessert. Und sie hoffen natürlich auch, dass sich die Wirtschaft entwickelt. Gleichzeitig merkt man, dass es nicht einfach ist, einen Konflikt, der seit 20 Jahren andauert, einfach zu vergessen. Das braucht viel Aufmerksamkeit und Sensibilität. Dieser Versöhnungsprozess sollte jetzt an allererster Stelle stehen. Die einzige tatsächliche Veränderung, die wir bisher sehen ist die Tatsache, dass Menschen einander besuchen können, weil es wieder eine Fluglinie zwischen den Ländern gibt. Generell würde ich aber sagen, dass die Menschen gemischte Gefühle haben: Niemand weiß, wo uns die aktuelle Entwicklung hinführt.
In Mekelle im Norden Äthiopiens unterstützt Caritas international ein Projekt für Straßenkinder, in dessen Zentrum ein breites Bildungsangebot steht. Wie wichtig sind darüber hinaus Kompetenzen außerhalb Schulunterrichts?
Natürlich steht Bildung für uns an erster Stelle. Das ist schließlich der einzige Ausweg aus der Armut. Gleichzeitig gibt es keine Garantie, denn jeder Mensch ist anders. Einige schaffen es durch die Hilfe einen gewissen akademischen Grad zu erreichen - andere nicht. Unsere Aufgabe ist es deswegen, den Kindern und Jugendlichen auch praktische Erfahrung mit auf den Weg zu geben, die ihre Chancen auf eine Anstellung steigern: z.B. Unterricht im Umgang mit Computern oder handwerkliche Dinge wie frisieren. Und wir unterstützen sie dabei, einen Führerschein zu bekommen. Darüber hinaus sind aber auch soziale Kompetenzen wie Führungsqualitäten wichtig für uns. Wenn ein Kind lernt, sich selbst zu organisieren und den eigenen Selbstwert kennt, hat das am Ende Auswirkungen auf allen Ebenen. Deswegen unterrichten wir die Kinder auch in Dingen wie Schauspiel, Journalismus oder Kunst, die sich auf den ersten Blick nicht direkt auszahlen mögen, aber die ganz entscheidend zu einer ganzheitlichen Entwicklung des Menschen beitragen.
Wie würde das Leben der meisten Kinder aussehen, wenn sie diese Unterstützung nicht hätten?
Das ist ganz einfach: Einige der Kinder aus unserem Projekt kommen direkt von der Straße. Der Großteil aber kommt aus sehr ärmlichen Familienverhältnissen. Wenn sie nicht in unseren Projekten wären, würden die meisten Kinder hart arbeiten müssen. Einige würden Zigaretten oder andere Produkte verkaufen, um ein bisschen Bargeld zu bekommen. Oder sie würden auf dem Bau helfen. Gerade Mädchen übernehmen Aufgaben wie das Waschen von Kleidung für reiche Familien, um ihre Familie irgendwie unterstützen zu können.
Wie gehen Sie mit Rückschlägen um, wenn Kinder im Projekt Hilfe bekommen und am Ende doch den Weg zurück in die Kriminalität der Straße wählen?
Von allen Kindern, die ich in den letzten zehn bis elf Jahren betreut habe, gab es nur einen einzigen Jungen, der in sein altes Leben zurückgekehrt ist. Alle anderen haben entweder in anderen Organisationen Anstellung gefunden oder sie haben sich selbstständig gemacht. Bei uns gibt es keine Rückfälle. Wir versuchen die Kinder ganzheitlich zu unterstützen - das beginnt beim Respekt der Person und endet mit der Liebe. Ich glaube je mehr Liebe eine Person erfährt, desto mehr blüht sie auf und will sich ändern, um etwas zurückzugeben.
Sind die Straßenkinder gut integriert in die Gesellschaft oder ist Diskriminierung ein großes Thema in Äthiopien?
Leider ist das ein großes Thema, ja. Es gab Zeiten, da habe ich Schüler zur Anmeldung in private Schulen begleitet und ab dem Moment als ich ihre Familiensituation erklärt habe, wurden sie abgelehnt, weil sie angeblich einen schlechten Einfluss auf die anderen Kinder hätten. Das hat mich so wütend gemacht, dass ich noch härter gearbeitet habe. Ein großer Teil unserer Arbeit ist deswegen die Aufklärung. Dafür nutzen wir mediale Wege wie Fernsehen, Radio oder Newsletter. Viel wichtiger sind aber unsere Workshops, bei denen wir Lehrer, Schuldirektoren, Politiker und religiöse Führer einladen, damit sie verstehen, dass ein Straßenkind ein Mensch ist wie jeder andere auch. Und mit der richtigen Förderung können diese Kinder auch in Sachen Ausbildung mit anderen Kindern mithalten: Wir haben Ingenieure, Ärzte, Lehrer unter den Kindern.
Das Interview führte Hannah Radke im August 2018