Das "offene Ohr" in El Alto
Das Lächeln verschwindet fast nie aus Reynitas Gesicht. Immer fröhlich, so kennen sie die anderen hier auf den Straßen von El Alto. Sie strahlt ein inneres Licht aus und hat sich diesen unschuldigen Blick bewahrt, den sie nur dann hinter der Blende ihrer Schirmmütze versteckt, wenn sie sich schämt. Wenn man sie sieht, würde man sie auf kaum älter als 13 Jahre schätzen. Dabei erklärt sie stolz, dass sie gerade 18 und volljährig geworden sei. Es scheint als seien die fünf Jahre, die sie bereits auf der Straße lebt, spurlos an ihr vorüber gegangen. Als wäre die Uhr des Lebens an dem Tag stehen geblieben, als ihr Vater starb und sie zusammen mit ihrer Mutter, ihrem Stiefvater und ihren Schwestern vom Land in die Stadt ziehen musste. "Ich war nicht gerne zu Hause. Ich hatte Probleme mit meinem Stiefvater und bin auf die Straße gegangen", erzählt sie mit einer verblüffenden Abgeklärtheit. "Außerdem", fügt sie erklärend hinzu, "mag meine Mutter lieber die Jungs, die sie mit ihm hatte, als meine Schwestern und mich".
Träumt von einer Karriere als Anwältin: Die Ex-Prostituierte ReynaCaritas international / Wilfredo Limachi
"In der ersten Zeit, als ich auf der Straße war, habe ich Kleinbusse ausgerufen und damit Geld verdient. Es ging mir gut. Aber mein Arbeitgeber wollte mich mit seinem Sohn verkuppeln, der sechs Jahre älter war als ich. Da hab ich den Job geschmissen". Mit dem wenigen, das sie hatte, vagabundierte sie auf den Straßen von El Alto, bis sie eine neue Einkommensquelle fand, indem sie den Eingang zum öffentlichen Bad hütete. Als Strategie gegen ihre Einsamkeit schloss sie sich einer Gruppe von Mädchen an, die sich in derselben Lage befanden wie sie. "Mit ihnen fing ich an zu schnüffeln (d.h. Klebstoff und andere Drogen inhalieren) und hab die Arbeit geschmissen. Ich wohnte in einer Pension und ‚machte Zimmer‘ (in der Bedeutung von "anschaffen") wie die anderen Mädchen auch, um Geld zu verdienen", erzählt sie stockend.
Dienstags morgens gehen Elisabeth Velasco, Psychologin der Stiftung und ihr Team von Sozialarbeiter/innen zum Juana de Azurduy-Platz im Viertel Villa Dolores. Sie suchen und halten den Kontakt zu den Jugendlichen, die dort zusammen kommen. "Dort finden sich diejenigen, die im Begriff sind, ihr zu Hause zu verlassen. Die meisten von ihnen wurden in ihrem familiären Umfeld Opfer der Gewalt", erklärt sie. Donnerstags nachts arbeitet das Team direkt mit Mädchen, die bereits auf der Straße leben. "Wir reden mit ihnen. Sie kennen uns schon und haben Zuneigung zu uns. Wir laden sie ein, in unseren ‚Offenen Raum‘ zu kommen. Nach und nach fangen wir dann an, mit ihnen über die Risiken zu sprechen, denen sie sich auf der Straße aussetzen und über die Hilfe, die wir ihnen anbieten können", berichtet Ariel Ramírez, Psychologe der Stiftung.
Die Präventionsarbeit mit Jugendlichen auf der Straße ist einer der Pfeiler der Arbeit, die die Stiftung Munasim Kullakita in El Alto leistet. Die stark gefährdeten Jugendlichen aufzuklären, kann wesentlich dazu beitragen, die Zahl der Mädchen zu reduzieren, die in die Falle sexueller Gewalt und Prostitution geraten. Für diejenigen, die bereits Opfer sind, stellt die Aufklärung über ihre Bedürfnisse und Rechte einen Schlüssel dar, um die Zahl der Menschenrechtsverletzungen gegenüber diesen Minderjährigen zu verringern.
Lebt auf der Straße: Die 18 Jahre alte ReynaCaritas international / Wilfredo Limachi
"Seit ich vor drei Jahren die von Munasim kennen gelernt habe, haben sie mir viel geholfen, sie fragen wie es mir geht und kümmern sich um mich", erzählt Reynita, die wie viele andere Mädchen regelmäßig zum "Offenen Raum" der Stiftung kommt. Hier kann sie sich selbst und ihre Kleidung waschen und an verschiedenen Kursen teilnehmen. "Wir haben erzieherische Module über richtige Verhaltensweisen, Geschlechtskrankheiten, häusliche Gewalt und Selbstwert. Der Donnerstagnachmittag ist dem Programm "Jiwasa" (übersetzt "wir") vorbehalten und der eigenen Körperpflege, Haarpflege etc", berichtet Psychologin Elisabeth Velasco.
Nach dieser vorsichtigen Annäherung erhalten die jungen Frauen das Angebot, in das Heim der Stiftung einzuziehen, das diese vor acht Jahren im Viertel Villa Adela eingerichtet hat. "Es ist ihre persönliche Entscheidung, wir können sie nicht dazu zwingen", betont Ricardo Giaviarini, der Direktor der Stiftung. Dort geben die Mitarbeitenden den jungen Frauen eine zweite Chance. Sie lernen, sich wieder in eine Gemeinschaft einzufügen. Soweit wie möglich, wird versucht, die Minderjährigen mit ihren Familien wieder zu vereinen. "Aber manchmal haben sie keine Angehörigen mehr oder sie können nicht nach Hause zurück, weil dort der Konflikt ist", erklärt Velasco und weist darauf hin, dass es das Hauptziel des Heimes ist, die Mädchen in die Selbständigkeit zu entlassen.
In Fällen wie bei Reynita, die mehrere Monate im Heim verbrachte und dann beschloss, auf die Straße zurück zu kehren, setzt sich die Hilfe im Bereich der Präventionsarbeit fort. Ziel bleibt, dass sie dem Teufelskreis aus sexueller Gewalt, Prostitution und feindlichem Umfeld entkommt. Eine Arbeit, die ganz langsam Früchte trägt.
Als wir über die Straßen spazieren, die an das Viertel Ceja grenzen, erzählt Reynita stolz, dass sie sich ein Zimmerchen gemietet habe. Sie habe wieder Kontakt zu ihrer Mutter und ihren Schwestern und gehe nur noch selten "anschaffen". "Außerdem mache ich einen Computer-Kurs in La Paz". Regelmäßig fährt sie nach Viacha, ihr Geburtsort, und besucht das Grab ihres Vaters auf dem Dorffriedhof. "Vor zwei Jahren habe ich ihm versprochen, dass ich aufhöre zu schnüffeln und ich hab’s geschafft!"
Reynita blickt gedankenverloren zum Horizont, der sich hinter den Gassen der Stadt abzeichnet. Sie hat ehrgeizige Träume für die Zukunft: "Ich will Jura studieren und Rechtsanwältin werden, um Frauen, Opfern der Gewalt, zu helfen und damit es keine Straßenkinder mehr gibt". Leichten Schrittes läuft sie weiter und verliert sich in der Menge El Altos. Sie geht sicher, wie ein Mädchen, das durch die Lebensumstände und die Gesellschaft vorzeitig erwachsen geworden ist.