Nirmala darf wieder lernen
Nach den Abschlussprüfungen an der Schule will Nirmala Sprachen studieren.Foto: Isabel Corthier
Es ist Prüfungszeit in der Mahendra-Sekundarschule. Im Zimmer der 10. Klasse ist es mäuschenstill, nur gelegentlich dringt ein Rascheln von Papier nach draußen. Der Lehrer hat sich vor die Tür in die Sonne gesetzt. Über die Türschwelle hinweg gibt er den Schülern Anweisungen und passt auf, dass niemand abschreibt. Die 15-jährige Nirmala Tamang ist konzentriert über ihre Blätter gebeugt. Trotz ihres ernsten Gesichtsausdrucks wirkt sie wie ein aufgestellter, moderner Teenager. Vielleicht wegen ihres lässig zur Seite geflochtenen Zopfes und der knalligen, orangen Ohrringe, welche im Kontrast stehen zur himmelblauen Bluse der Schuluniform.
In der Prüfung geht es nicht um abstraktes Schulwissen, sondern um eine wichtige Frage im Leben der Mädchen und Jungen: Wie wirkt sich Bildung auf die Lebensqualität aus? Die Antwort darauf hat Nirmala von ihrem Vater von klein auf mit auf den Weg bekommen. Aufgrund von Armut und fehlendem Bildungsbewusstsein in der Familie konnte er selbst nie eine Schule besuchen. Doch er sah bei anderen Familien, wie eine gute Schulbildung das Leben verändern kann. Daraus hat Nirmalas Vater seine Schlussfolgerungen gezogen: Heute tut er alles für die Ausbildung seiner Kinder – auch sie sollen einen Platz auf der Sonnenseite des Lebens bekommen.
Das Erdbeben änderte alles
Der Schulbesuch wurde für Nirmala und ihre Geschwister jäh unterbrochen, als am 25. April 2015 ein verheerendes Erdbeben der Stärke 7,9 das Land erschütterte. Fast alle Klassenzimmer im Distrikt Sindhupalchowk wurden zerstört. Um ohne größere Unterbrechung den Unterricht weiterführen zu können, errichteten Caritas Schweiz und ihre Partner 100 provisorische Schulgebäude für 6.500 Kinder.
„Nach dem Erdbeben wollte ich nicht mehr in die Schule“, erinnert sich Nirmala. „Ich hatte solche Angst, dass das Schulhaus bei einem Nachbeben einstürzen und ich sterben würde. Aber dann sagten meine Freunde, dass jemand provisorische Schulen gebaut habe, und dass wir Bücher bekommen würden, wenn wir hingehen“. Sie lächelt schüchtern und fügt an: „Also ging ich hin“.
Den Boden unter den Füßen weggezogen
Nachdem die Prüfung geschafft ist, machen sich Nirmala und ihre Freundinnen müde, aber gut gelaunt auf den Nachhauseweg. Nach einem 45-minütigen Spaziergang entlang eines Trampelpfades, der von der Hängebrücke durch Weizenfelder und Wälder auf eine Anhöhe führt, erreicht die kleine Gruppe den Dorfladen, den Nirmalas Eltern vor fünf Jahren eröffnet haben. In den vollgepackten Regalen des bescheidenen Ladens wird von Handspiegeln über Taschenlampen bis hin zu Whiskey alles feilgeboten. Eine herzförmige Uhr und getrocknete Blumengirlanden über der Theke verbreiten atmosphärische Wärme im ansonsten kühlen Frühlingsklima.
Video: Nirmalas Schulweg und Besuch in der Schule
Als das Erdbeben vor einem Jahr der Familie buchstäblich den Boden unter den Füssen wegzog, waren Nirmalas Eltern und ihre Geschwister Urmila (11), Surendra (10) und Sirmala (18 Monate) zu Hause. Sie konnten sich alle rechtzeitig in Sicherheit bringen, doch das Haus der Familie wurde komplett zerstört. „Wir konnten kaum etwas aus den Trümmern retten“, sagt Nirmalas Vater, „nicht einmal Decken oder einen Kochtopf. Während zwei Wochen schliefen wir zu fünft im offenen Feld, im Regen, ohne Decken und mit kaum etwas zu Essen.“ Als die dringend benötigten Hilfsgüter das Dorf nach zwei Wochen erreichten, baute sich die Familie eine bescheidene Unterkunft aus Wellblech.
Die Hauptstadt Kathmandu vor Augen
Mittlerweile haben auch die schlechten Träume und Angstzustände, an denen Nirmala nach dem ersten Beben litt, nachgelassen, und sie kann ihre Energie wieder ganz für ihre Ausbildung einsetzen. Und das muss sie, denn in wenigen Monaten steht sie vor den Prüfungen für das School Leaving Certificate, das in Nepal als das eiserne Tor der Bildung gilt und dessen Resultate über die weiteren Ausbildungsmöglichkeiten der Kinder entscheiden. Nach diesem Abschluss möchte Nirmala in Kathmandu Sprachen studieren und eines Tages als Englisch-Lehrerin arbeiten. „Ich möchte das, was ich gelernt habe, an andere weitergeben können“, sagt sie.
Bis es soweit ist, besucht Nirmala das temporäre Schulgebäude. Täglich kann sie beobachten, wie an Stelle der zerstörten Schulen Schritt für Schritt neue, feste Gebäude entstehen. Im März 2016 begann Caritas Schweiz im Distrikt mit dem Wiederaufbau von 34 Schulen für 6.000 Kinder. Caritas international, das Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes, finanziert das Großprojekt mit.
Auf die Frage, was sie sich für die neue Schule wünschen, sind sich Nirmala und ihre Freundinnen einig: „Sicher soll sie sein“, sagen sie ohne zu zögern. Caritas tut alles, um den Mädchen diesen Wunsch zu erfüllen: Unter Berücksichtigung von nationalen und internationalen Baustandards werden Schulen gebaut, die selbst Bebenstärken über denjenigen vom April 2015 standhalten. Weitere Baumaßnahmen gelten dem Umland: „Teils sind die Schulen in hügeligem Terrain gelegen und es besteht ein Risiko für Erdrutsche“, sagt Thakur Thapa, leitender Ingenieur bei Caritas Schweiz. „Daher werden wir Schutzmauern in den erdrutschgefährdeten Stellen anbringen“.
Lernen in Richtung der Götter
Einweihung einer neuen Schule im Bergdorf Palchok, Sindhupalchowk.Foto: Ramesh Maskey, Caritas Schweiz
Die Anordnung und Ausrichtung von Gebäuden und Schutzmauern wurden in einem Masterplan, welcher den topographischen und sozialen Bedürfnissen der Schule Rechnung trägt, ausgearbeitet. „Ich habe die Pläne für die neue Schule persönlich mit dem Caritas-Team besprochen“, sagt Ram Bhakta Bhadel, der seit 30 Jahren an Nirmalas Schule Sozialkunde unterrichtet. „Im ursprünglichen Plan waren die Gebäude gegen Norden ausgerichtet“, fügt er an, „doch wir wollten eine Ost-Ausrichtung.“ Entsprechend der Wünsche der Lehrer wurde der Plan so angepasst, dass sich die Schule künftig an der Richtung der Götter orientiert.
Peter Eppler, Delegierter von Caritas Schweiz in Nepal, sieht in den Schulen eine wichtige Investition in Nepals Zukunft: „Wir hoffen, mit unseren sicheren und modernen Schulen dazu beitragen zu können, dass auch andere Schulen gemäß den von uns angewendeten Standards gebaut werden.“
„Nach 30 Jahren Unterrichten hatte ich mich bereits auf meine Pension vorbereitet“, sagt Ram Bhakta Bhadel, „aber nun werde ich bleiben, bis die Schulen stehen“. Die Bauarbeiten sind in vollem Gange – und wenn alles gut geht, wird der Lehrer seine Pension im August 2017 mit der Einweihung von neuen, erdbebensicheren und kinderfreundlichen Schulgebäuden feiern können. Nirmala selbst kehrt eines Tages vielleicht an ihre Schule zurück – diesmal als Lehrerin, um die nächste Generation in Englisch zu unterrichten.
Caritas Schweiz, April 2016 (gekürzt)