Griechenland: Nothilfe für Geflüchtete auf Lesbos
Es kommen Menschen
Schwungvoll öffnet Jacob Tamba die Plastiktür seines Zeltes. Er begrüßt uns mit festem Handschlag und einem freundlichen Lächeln, das bis zu einer tiefen Narbe auf seiner linken Wange reicht. Als wir eintreten, müssen sich meine Augen erst an die Dunkelheit gewöhnen, das Zelt hat keine Fenster. Jacob Tamba teilt sich den rund sechs Quadratmeter großen Raum mit einem Mitbewohner. Er schläft und lebt auf einem Hochbett, mehr Platz hat er nicht.
Wir sind im Flüchtlingslager Mavrouvoni auf der griechischen Insel Lesbos. Es wurde 2020 errichtet, nachdem das berüchtigte Lager Moria abgebrannt war. Menschen, die die lebensgefährliche Überfahrt von der Türkei in die Europäische Union wagen, kommen hier unter, bis ihr Asylgesuch geklärt ist. Von außen wirkt das Camp wie ein Gefängnis: hohe Mauern, Stacheldrahtzaun, Polizeischutz. Ich darf es nur betreten, weil Caritas Griechenland hier aktiv ist. Mein Begleiter Loukas Chatziapostolou unterrichtet im Camp Griechisch.
Träume auf Papier
Auf dem Fußboden vor seinem Bett hat Jacob Tamba Skizzen von Gebäuden ausgebreitet. Auf Zehenspitzen versuche ich, auf keine der Zeichnungen zu treten. Hastig schiebt er die Papiere zusammen, sodass wir uns zu dritt auf den Boden setzen können. "Bevor ich geflüchtet bin, habe ich in meiner Heimat, in Sierra Leone, Architektur studiert", erzählt er. Seine Worte überschlagen sich fast, als er die modernen Gebäude beschreibt, die er nach seinem Architekturstudium entwerfen möchte. Sein Vorbild ist Zaha Hadid, die irakisch-britische Stararchitektin. Wie sie liebt er Gebäude mit markanten Linien. Er möchte die Städte der Zukunft verändern und modernen Wohnraum für alle schaffen. Er deutet auf die Blätter, um mir seine Traumwohnung zu zeigen. Sie ist ein extremer Gegensatz zu seinem Leben im Flüchtlingszelt. "Es soll eine moderne Küche geben. Der Mittelpunkt des Hauses ist der große Esstisch für die Familie", erläutert er.
Auf meine Frage, ob er es für möglich hält, seine eigene Familie bald wieder zu sehen, schüttelt er den Kopf: "Ich kann nicht zurück nach Sierra Leone. Dort würden sie mich ins Gefängnis stecken." Die Teilnahme an einer Demonstration gegen die Regierung war ihm zum Verhängnis geworden. Sechs junge Männer wurden dabei getötet. "Die Polizei hat mich in eine Ecke gedrängt und mir mit einer Waffe ins Gesicht geschlagen", sagt Jacob Tamba, während er seine vernarbte Wange berührt. Er konnte knapp entkommen und sich versteckt halten. Aber als sich die Drohungen gegen seine Familie richteten, beschloss er zu fliehen - quer über den afrikanischen Kontinent bis in die Türkei.
Stunden voller Todesangst
Von dort schafft er es, einen Platz in einem überfüllten Schlauchboot zu finden, um auf die griechische Insel Lesbos überzusetzen. Die See war rau und mehrfach drohte das Boot zu kentern. Für einen Mann, der nie gelernt hatte, zu schwimmen, waren es Stunden voller Todesangst. "Nach und nach habe ich verstanden, dass die Flucht tödlich enden könnte. Es gibt kein gutes Ende. Entweder nimmst du die schlimmen Erlebnisse in Kauf oder du stirbst. Ich hatte Glück, ich bin lebend hier angekommen", erklärt mir der 22-Jährige nüchtern.
Seit seiner Ankunft vor mehr als acht Monaten lebt Jacob Tamba nun im Flüchtlingscamp Mavrovouni. Weiter studieren kann er nicht, nur warten. Auf seinen Asylbescheid und darauf, dass es irgendwie weitergeht. Während das Asylverfahren bei einigen Geflüchteten nur wenige Wochen dauert, müssen andere Jahre warten. Begründungen dafür gibt es selten. "Wie hält man das aus?", frage ich ihn. Jacob Tamba ist ungefähr so alt wie ich, wir haben beide Träume und berufliche Ziele. "Erst nur schwer. Am Anfang haben mich meine Erinnerungen immer wieder eingeholt. Ich konnte nicht schlafen, nicht essen. Es hat sich angefühlt, als ob mich ein Tintenfisch mit all seinen Tentakeln erdrücken würde", sagt er. Dann habe er sich an ein Sprichwort seiner Mutter erinnert. "Sie hat immer gesagt: Sei wie Wasser. Wasser nimmt die Form des Gefäßes an, in dem es sich befindet. Das bedeutet, dass man viele Hürden im Leben überwinden kann, indem man sich anpasst." Deshalb habe er schon in den ersten Tagen nach seiner Ankunft angefangen, IT-Kurse für andere Flüchtlinge zu geben und bei den Essensverteilungen zu helfen.
"Du bist hier nicht allein."
"Seit Anfang an war die Caritas hier meine Stütze. Eine Psychologin half mir meine Gedanken zu sortieren. "Und vor allem war da Loukas", fügt Jacob Tamba lächelnd hinzu und stupst seinen Griechischlehrer mit dem Ellenbogen in die Seite. "Ich weiß noch ganz genau, was du bei unserem ersten Treffen zu mir gesagt hast: ‚Jacob, du bist hier nicht allein. Ich werde dir helfen.‘" "Stimmt doch, oder?", fragt Loukas Chatziapostolou zurück. "Ja, und wie. Du hast dein Wort gehalten", bestätigt Jacob Tamba. "Ohne dich hätte ich mich schon längst aufgegeben."
Loukas Chatziapostolou blickt auf die Uhr, wir müssen aufbrechen, da gleich die nächste Unterrichtsstunde beginnt. Jacob Tamba begleitet uns über die Schotterwege zum Caritas-Zentrum, um am Griechischkurs teilzunehmen. Ich frage ihn, warum er die Sprache lernt, wenn er doch perfekt Englisch spreche. "Es bringt mich meinem größten Wunsch näher: Weiter Architektur zu studieren. Mit Loukas‘ Hilfe habe ich es schon geschafft, Kontakt zu griechischen Universitäten aufzunehmen", sagt er mit einem Leuchten in den Augen.
Caroline Lauhoff besuchte das Flüchtlingslager Mavrovouni im Frühjahr 2023