Es gibt Ereignisse und Tragödien, die das Weltgeschehen in ein "davor" und ein "danach" teilen. In Haiti fand vor fünf Jahren auf tragische Weise eine solche Zäsur statt. Es war eine beispiellose Katastrophe, für deren Bewältigung es kein fertiges Schema gab - und die eine weltweite Welle der Hilfsbereitschaft auslöste. Allein bei der deutschen Caritas gingen Spenden in Höhe von rund 20 Mio. Euro ein.
Viele Schwierigkeiten begleiten unsere Hilfeleistungen vom ersten bis zum heutigen Tag. Trotzdem konnte die weltweite Caritasfamilie, die unter dem gemeinsamen Dach von Caritas Internationalis hier im Vatikan koordiniert wird, sehr viele Menschen erreichen. Rund 60 nationale Caritas-Organisationen waren und sind teilweise immer noch in Haiti aktiv. Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt standen den Schwestern und Brüdern der haitianischen Kirche und ihrer Caritas zur Seite. So half etwa die Caritas in der Dominikanischen Republik, Hilfsgüter über das Nachbarland nach Haiti zu bringen. Caritas Mexiko übernahm direkt nach der Katastrophe die Leitung bei der Bergung von Verschütteten. Insgesamt leistete die weltweite Caritasfamilie Nothilfe für rund 1,5 Mio. Menschen. 350.000 Menschen wurden medizinisch versorgt, 100.000 mit Notunterkünften ausgestattet. Man darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass viele Mitarbeitende und Ehrenamtliche der Kirche selbst von der Tragödie betroffen waren, ihr Zuhause oder sogar Angehörige oder Freunde verloren hatten. Umso höher ist zu würdigen, was gerade in den ersten schwierigen Wochen und Monaten gemeinsam geleistet werden konnte.
Die deutsche Caritas war von Beginn an in Léogâne präsent, einer Stadt mitten im Epizentrum des Erdbebens. Daneben engagierten und engagieren wir uns schwerpunktmäßig in Porte-au-Prince sowie in der Diözese Anse-à-Veau et Miragoâne. Zunächst ging es darum, die Überlebenden der Katastrophe mit dem Notwendigsten zu versorgen: Mit Lebensmitteln und Wasser, mit Zelten und medizinischer Hilfe. Nach und nach begann die Phase des Wiederaufbaus: Neben Privathäusern wurden auch soziale Einrichtungen wieder hergestellt oder neu errichtet, Bildungsprojekte gefördert, Gesundheitsstationen aufgebaut und die psychosoziale und gesundheitliche Betreuung der Betroffenen in Angriff genommen. Außerdem konnte ein Ausbildungszentrum für Handwerker eröffnet werden. Diese sollen dazu beitragen, die Zahl erdbebensicherer Gebäude auf Dauer zu erhöhen. Denn schließlich hatte die schlechte Statik vieler Gebäude einen großen Teil zur enorm hohen Opferzahl beigetragen. Insgesamt gewinnt der Aspekt der Katastrophenvorsorge in unseren Projekten eine immer größere Bedeutung. Nur wenn es gelingt, die Menschen besser vor den Folgen zukünftiger Erdbeben oder Stürme zu schützen, ist Katastrophenhilfe wirklich nachhaltig.
Ein Projekt, das mir besonders lebendig in persönlicher Erinnerung bleibt, ist das von Vinzentiner-Schwestern geführte Alten- und Behindertenzentrum "Asile St. Vincent de Paul" in Léogâne. Die 20 Gebäude wurden bei dem Erdbeben fast vollständig zerstört, zwölf Menschen verloren ihr Leben, die Bewohner und Betreuerinnen waren zutiefst traumatisiert. Dem unermüdlichen Einsatz der Ordensoberin Soeur Claudette und ihren Mitschwestern ist es zu verdanken, dass heute mehr Menschen als vorher in dem Zentrum Zuflucht gefunden haben. Neben dem Wohnprojekt für mehr als 100 Senioren und Menschen mit Behinderung konnten auch die Grundschule und ein Kindergarten für rund 400 bedürftige Kinder wiedereröffnet werden. Wir sind froh und auch ein wenig stolz, dass wir die Schwestern beim Wiederaufbau ihres Lebenswerks unterstützen konnten.
Dieses Projekt zeigt auf beeindruckende Weise, was wir in der Not- und Katastrophenhilfe in allen Erdteilen immer wieder feststellen: Die Hilfe wirkt nur dann dauerhaft, wenn wir sie auch gemeinsam mit den Menschen planen und umsetzen. Es ist in akuten Notsituationen unser Anspruch, die Menschen bei der Selbsthilfe zu unterstützen und nicht Projekte zu entwerfen, die wenig mit den realen Bedürfnissen zu tun haben. Der Vorteil einer großen Solidargemeinschaft wie der Caritas ist es, dass in fast jedem Land bereits Strukturen existieren, die hierfür genutzt werden können.
In Haiti hat die katholische Kirche durch das Engagement vieler Priester, Ordensangehöriger und Ehrenamtlicher in Kirchengemeinden, lokaler Caritas und Sozialstationen dafür gute Voraussetzungen. Gemeinsam mit unseren Partnern bemühen wir uns insbesondere um die Bevölkerungsgruppen, die am stärksten unter den Folgen der Katastrophe zu leiden haben: Kinder, Menschen mit Behinderung oder Senioren zum Beispiel. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen der Caritasarbeit in Haiti und Deutschland: Wir fördern und fordern für alle Menschen, besonders für jene, die am Rande stehen, eine selbstbestimmte Teilhabe am Leben.
Doch trotz unseres großen Netzwerks sind wir und unsere Partner in Haiti oft an Grenzen gestoßen. Es wäre vermessen und unrealistisch zu glauben, dass allein durch internationale Hilfe Strukturen entstehen, die es vorher so auch nicht gegeben hat. Es bestehen nach wie vor sehr viele Hindernisse, die einer positiven Entwicklung in Haiti entgegenstehen: Die noch immer weit verbreitete Korruption, das mangelnde Engagement bestimmter Bevölkerungsgruppen am Gemeinwohl, das weiterhin schwach entwickelte Bildungssystem, um nur einige zu nennen. Schon jetzt hat die mangelnde Präsenz des Staates zur Folge, dass Institutionen wie die katholische Kirche Aufgaben erfüllen, die wir eigentlich vom Staat einfordern müssen. Wir stehen deshalb noch immer vor der Aufgabe, unsere Schwestern und Brüdern dabei zu unterstützen, das Gemeinschaftsgefühl in der Bevölkerung weiter aufzubauen und zu stärken. Die gemeinsame Entwicklung von Hilfsprojekten kann ein wichtiger Schritt dazu sein.
Fünf Jahre nach dem verheerenden Erdbeben blicken wir mit gemischten Gefühlen, aber einem hoffnungsvollen Blick nach vorn. Der Aufbau tragfähiger Strukturen und die Entwicklung eines funktionierenden Gemeinwohls brauchen einen langen Atem. Die weltweite Caritasfamilie hat diesen langen Atem und wird Haiti nicht im Stich lassen. Sind wir doch dazu berufen, im Sinne des barmherzigen Samariters dort zu helfen, wo Not ist (vgl. Lk 10,29-37) - damit alle das Leben haben und es in Fülle haben (vgl. Joh 10,10).
Januar 2015