Meine sehr geehrten Damen und Herren,
jede Katastrophe stellt an die Hilfsorganisationen neue Herausforderungen. Es kann deshalb keine Katastrophenhilfe nach Schema F geben, das haben die Katastrophen von Haiti bis Chile und Pakistan gezeigt. Es gibt jedoch zwei zentrale Leitlinien, an denen der Deutsche Caritasverband mit seinem Hilfswerk Caritas international und die anderen hier am Tisch vertretenen Organisationen ihre Hilfe weltweit ausrichten. Dazu gehört, dass wir uns auf bewährte, autonome Partner vor Ort stützen und all unsere Hilfen mit den Menschen planen und mit ihnen umsetzen. Betroffene sind für uns keine Opfer sondern Partner, deren Eigeninitiative und Selbsthilfe wir unterstützen.
In Haiti ist die Ausrichtung der Hilfe an diesen Leitlinien in meinen Augen so wichtig wie selten zuvor nach einer Katastrophe. Zwei Gründe sind dafür maßgeblich: Zum einen das vollständige Fehlen eines funktionierenden Staates und zum anderen die tiefgreifende Entsolidarisierung der haitianischen Gesellschaft.
Zum Staat: Wir hatten es als Hilfsorganisation in keiner Katastrophe des vergangenen Jahrzehnts mit einem derart überforderten Staat zu tun wie in Haiti. Dass sich daran etwas Entscheidendes ändert, ist auch nach den Wahlen vom 28. November nicht zu erwarten. Es ist für uns bis heute nicht erkennbar, dass die haitianische Staatsführung aktiv am Wiederaufbau arbeitet. Es gibt dafür viele Gründe - verschuldete und unverschuldete: Das reicht von korrupten Eliten, Missmanagement und mangelhaften Bildungsstandards bis hin zum Umstand, dass durch das Beben viele Staatsbeamte getötet wurden.
Die Lehren aus den Erfahrungen mit dem Staat in den vergangenen Monaten haben uns nochmals deutlich gezeigt, dass es in Haiti keine Entwicklung zum Besseren geben wird, wenn nicht die betroffene Bevölkerung selbst zum Motor der Veränderung wird. Als größte Hilfsnetzwerke der Welt haben die hier vertretenen Organisationen gute Voraussetzungen dafür, eine solche Entwicklung von unten anzustoßen. Das haben wir in der Vergangenheit mit guten Erfahrungen über unsere Verankerung in den Kirchengemeinden getan.
Schon jetzt hat die Abwesenheit des Staates jedoch zur Folge, dass zivilgesellschaftliche Partner wie die Kirchen Aufgaben erledigen, die wir eigentlich vom Staat einfordern müssen, Stichwort: Gesundheitssystem. Seit dem Ausbruch der Cholera erkennen wir besonders deutlich, wie marode die staatliche Infrastruktur ist. Es ist ein glücklicher Umstand, dass hunderte von Hilfsorganisationen vor Ort sind, um bei der Bekämpfung der Seuche mitzuhelfen; alle hier versammelten Organisationen haben daran maßgeblichen Anteil. Es muss aber auch klar gesagt werden: Hilfsorganisationen sind kein Ersatzstaat. Fehlen Rahmenbedingungen, wie etwa eine verbindliche Bauleitplanung, stößt auch unser Engagement an seine Grenzen. Das Handeln von Nichtregierungsorganisationen und Regierungsorganisationen muss Hand in Hand gehen.
Die Entsolidarisierung geht mit dem zuvor Gesagten einher: Seit 200 Jahren hat sich die Elite des Landes nicht um die Bevölkerung in Haiti gekümmert. Diktaturen und Korruption haben in vielen Bereichen dazu geführt, dass das Recht des Stärkeren gilt. Ein solidarisches Miteinander konnte unter diesen Bedingungen nicht entstehen. Wir stehen deshalb heute vor der Aufgabe, so etwas wie ein Gemeinschaftsgefühl in Haiti neu aufzubauen. Die gemeinsame Entwicklung von Hilfsprojekten kann ein erster Schritt dazu sein. Das haben wir z.B. nach dem Tsunami in Südostasien erlebt. Die Erfahrung, gemeinsam etwas aufzubauen, kann Grenzen abbauen, die durch Bürgerkrieg oder Verelendung entstanden sind.
Das ist auch unser Ziel in Haiti. In Haiti hat die katholische Kirche durch das flächendeckende Engagement von Priestern, Ordensangehörigen und Ehrenamtlichen in Kirchengemeinden, lokaler Caritas und Sozialstationen dafür beste Voraussetzungen. Wir greifen bei unserer Hilfe keine Bevölkerungsgruppe heraus, sondern bemühen uns von den Rändern ausgehend, alle ins Boot zu holen und die gesamte Gemeinschaft im Blick zu behalten. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen der Caritas-Arbeit in Haiti und Deutschland: Wir fordern für alle Menschen gleichermaßen, besonders für jene, die am Rande stehen, eine selbstbestimmte Teilhabe am Leben.
Sehr geehrte Damen und Herren! Ein Jahr nach dem Beben fragen sich viele: Wird Haiti nach dem Beben als "neues Haiti" auferstehen, wie es einige vor elf Monaten erhofften? Wenn wir ehrlich sind, müssen wir sagen: Ein Jahr ist zu kurz, um zu beurteilen, ob der Wiederaufbau erfolgreich sein wird. Aber wir wissen durch unsere Erfahrungen nach anderen Naturkatastrophen, dass dauerhaften Erfolg nur die Umsetzung der Projekte gemeinsam mit den Betroffenen verspricht. Alles andere würde ein Strohfeuer bleiben.
Dezember 2010