Sehr geehrte Damen und Herren,
das westliche Militär hat angekündigt, sich 2014 nach zwölfjähriger Präsenz im Land offiziell aus Afghanistan zurückziehen. Das ist in vielerlei Hinsicht ein wichtiger Markstein in der Geschichte des Landes. Auch wir werden seit Bekanntwerden dieses Vorhaben gefragt: Was bedeutet der Abzug für Hilfsorganisationen wie Caritas? Aufgrund der Erfahrungen, die wir in anderen Ländern mit ähnlichen Szenarien gesammelt haben, können wir sagen: Vermutlich relativ wenig. Jedenfalls gibt es keinen Grund über einen eigenen Abzug des Personals nachzudenken. Denn wir erleben in vielen Ländern, in denen wir tätig sind: Das Militär und politische Regime kommen und gehen, Caritas und seine Mitarbeiter aber bleiben im Land.
Speziell in Afghanistan sehen wir es als unsere humanitäre Pflicht an, aufgrund der gleichbleibend großen Not weiter im Land tätig zu sein. Wir waren als Caritas zu Zeiten des Bürgerkrieges in Afghanistan aktiv, wir haben während der Taliban-Herrschaft dort gearbeitet und werden das auch nach Abzug des westlichen Militärs weiter tun. Gradmesser unserer Hilfe ist einzig und allein die Not der Menschen, die nach wie vor unbestritten groß ist: Afghanistan gehört, trotz der Anstrengungen der vergangenen Jahre, noch immer zu den ärmsten Ländern der Welt: Jeder zweite Afghane lebt in absoluter Armut, also von weniger als einem Euro am Tag. Zwei Drittel sind von Nahrungsunsicherheit bedroht. Das sind alarmierende Indikatoren.
Eben weil die politischen Regime kommen und gehen, ist es so wichtig, dass unsere Katastrophen- und Entwicklungshilfe unter allen Umständen neutral und unparteilich bleibt. Alles andere wäre lebensgefährlich. Unsere Arbeit darf sich nicht von politischen oder gar militärischen Erwägungen leiten lassen. Das war immer unser Grundsatz. Das ist im Übrigen nicht gegen die Bundeswehr gerichtet: Wir wissen das Eintreten der Bundeswehr für die Sicherheit in Afghanistan durchaus zu schätzen. Aber jede Zusammenarbeit mit dem Militär, das zeigt sich aktuell wieder, gefährdet unseren Anspruch, langfristig den Notleidenden helfen zu können.
Wie aber geht es konkret weiter mit den Hilfsprojekten? Wir vermuten, dass wir in Afghanistan auch nach 2014 instabile aber relativ berechenbare Verhältnisse vorfinden werden. Wir also quasi in einem Zustand zwischen Krieg und Frieden agieren werden, der Hilfsprojekte weiter zulässt. Genauso wichtig wie die Sicherheit wird aber vermutlich die Frage werden, ob diese Hilfe noch zu finanzieren sein wird. Denn auch für Afghanistan stehen uns aus dem Grund, den Prälat Neher für Syrien bereits benannt hat, kaum Spendengelder zur Verfügung. Im vergangenen Jahr waren es exakt 24.672 Euro private Spenden. Jedes Engagement dort ist deshalb in besonderem Maße von staatlichen und kirchlichen Geldern abhängig. Die Bundesregierung hat zwar zugesagt, bis 2016 die Mittel für zivile Projekte konstant zu halten. Offen ist aber, wie es danach weitergehen wird.
Dabei will ich nicht den Eindruck erwecken, dass die Höhe der eingesetzten Gelder bereits eine erfolgreiche Entwicklung sicherstellt. Vielmehr ist ja eine wichtige Lehre der vergangenen afghanischen Jahre, dass das "Wie" genau so wichtig ist, wie das "Wie viel". Um es an einem Beispiel zu sagen: Ein Krankenhaus lässt sich mit einer Baukolonne relativ schnell hochziehen. Die Frage ist aber: Was folgt dann? Wo kommen die Ärzte und Hebammen her? Wer zahlt die Gehälter? Wer bildet das medizinische Personal aus? Es kommt weniger auf den schnell vorzeigbaren Erfolg an, als auf die Nachhaltigkeit und Wirksamkeit. Die kann nur erreichen, wer das Land gut kennt und dauerhaft an der Seite der 32 Millionen Afghanen lebt und arbeitet.
Die Not, ich sagte es, ist groß in Afghanistan. Bei der Entwicklung und auch der Befriedung des Landes spielt die Verbesserung der Lebensverhältnisse, man kann das nicht oft genug sagen, die zentrale Rolle. Das Land steht vor ungeheuren neuen sozialen Herausforderungen. Ich will hier nur die Landflucht, die Verslumung der Städte, die auseinanderfallenden Familien und den Drogenmissbrauch nennen. Einiges wurde bereits erreicht: Beim Zugang zu Bildung und Gesundheit beispielsweise sehen wir enorme Fortschritte. Der landesweite Aufbau der Mädchenschulen ist eine enorme Erfolgsgeschichte: Dass 39 Prozent der Schüler heutzutage Mädchen sind, ist ein großer Hoffnungsschimmer. Auf der anderen Seite wächst Afghanistan jedes Jahr um eine Million Menschen. Viele Erfolge werden allein durch diese Bevölkerungsexplosion wieder aufgezehrt. Aber auch der stetig steigende Drogenmissbrauch bereitet uns große Sorgen: Eine Million Afghanen sind drogenabhängig; das sind acht Prozent der Bevölkerung. Aber pro Jahr stehen nur für rund 10.000 Menschen Therapieplätze zur Verfügung. Wir sehen darin für uns als Hilfsorganisation eine große, stetig wichtiger werdende Aufgabe.
Meine Damen und Herren, aus humanitärer Sicht war es wenig hilfreich, dass die westlichen Staaten ihre zivile Hilfe bislang stark auf die Regionen konzentriert haben, in denen auch die jeweiligen Truppen stationiert waren. Diese Politik führte dazu, dass in unserem Projektgebiet, der extrem armen, aber vergleichsweise sicheren Region des Hasaradschat, weniger internationale Hilfe ankam als aufgrund der Not der Menschen angemessen gewesen wäre. Trotz unserer eigenen Anstrengungen, die als NGO selbstverständlich begrenzt sind, gibt es dort noch immer viel zu wenig Krankenhäuser, Straßen und Schulen. Es ist paradox: Die Menschen dort haben über Jahre hinweg die Erfahrung gemacht, dass sie kaum internationale Hilfe erhielten, eben weil sie nicht zu den Waffen gegriffen haben und ihre Heimat friedlich ist.
Wenn nun die Bundesregierung im aktuellen Fortschrittsbericht zu Afghanistan schreibt, dass ein dauerhafter Frieden militärisch nicht zu erreichen ist, dann verbinde ich damit auch die Hoffnung, dass die politische Einsicht besteht, dass die Armutsbekämpfung nach Abzug des Militärs mit noch größerem Engagement angegangen werden muss. Kein Land mit derart alarmierenden Sozialindikatoren wie Afghanistan kann ein politisch stabiles Gemeinwesen aufbauen. Was wir also brauchen ist ein klares Bekenntnis zu einem dauerhaften Engagement und zu zivilen Konfliktlösungen, die stärker auf die soziale und wirtschaftliche Entwicklung unter Einbeziehung der breiten Bevölkerung zielt. Afghanistan ist ein extrem junges Land mit einem Durchschnittsalter von nicht einmal 18 Jahren. Wenn wir diese junge Generation der heute unter 25-Jährigen nicht aufgeben, und es gelingt, ihnen eine Zukunftsperspektive ohne Taliban und ohne Krieg aufzuzeigen, dann kann darin eine große Chance für den Aufbau Afghanistans liegen. Eine Investition in die Entwicklung dieser Generation ist auch eine Investition in die Stabilität des Landes.
Sehr geehrte Damen und Herren, ich mute Ihnen nun einen radikalen Ortwechsel zu und möchte aus aktuellem Anlass noch einige Worte zu den Folgen der verheerenden Flut in Ostdeutschland, Bayern und Osteuropa sagen: Die Deutschen zeigen in dieser Katastrophe wieder einmal große Solidarität. Das beweisen die großzügigen Geldspenden, die unter anderem bei Caritas international eingegangen sind. 11,9 Millionen Euro konnten wir unseren Caritas-Partnern in den betroffenen Regionen bislang zur Verfügung stellen. Dazu kommen die Spenden, die regional gesammelt worden sind. Selbst aus Thailand haben uns Solidaritätsschreiben und Spenden erreicht. Die riesige Hilfsbereitschaft zeigt sich aber auch an dem Engagement der unzähligen freiwilligen Helfer, die sich bei der Caritas melden. Jeder hilft jedem, egal ob jung oder alt, ob selbst betroffen oder auch nicht.
Die Caritas ist flächendeckend vor Ort, hat teilweise "Hochwasserbüros" eingerichtet, um direkt bei den Betroffenen für akute Hilfe und Beratung sorgen zu können. Wir werden für die Menschen weiterhin vor Ort da sein, auch ein offenes Ohr für ihre Sorgen und Nöte haben und menschliche Zuwendung in dieser für viele traumatischen Situation bieten. Ein Großteil der Arbeit, das ist klar, liegt aber noch vor uns, wenn der Wiederaufbau ansteht. Dann werden auch die meisten Spendengelder benötigt werden. Auch in dieser Phase werden wir selbstverständlich den Menschen zur Seite stehen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Oliver Müller
Leiter Caritas international