Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Damen und Herren,
das zweite Jahr in Folge widmen wir unsere Jahrespressekonferenz der humanitären Hilfe in kriegerischen Konflikten. Die Aktualität, Prälat Neher sagte es eben, macht es notwendig. Nie zuvor waren gleichzeitig an so vielen Orten der Welt so viele Menschen mit einer solchen Dringlichkeit auf Hilfe angewiesen wie in diesen Tagen. Das Leid dieser Menschen wird von Tag zu Tag größer, weil für politische Konflikte immer öfter militärische statt politische Lösungen gesucht werden.
An allen Krisenherden von Afghanistan bis zur Zentralafrikanischen Republik steht Caritas den Menschen zur Seite. Seit dem Biafra-Krieg Ende der 60er Jahre gehört die Hilfe für Kriegsopfer zum Wesenskern unserer Arbeit. Doch die Vielzahl der Konflikte überfordert uns auch: Es überfordert Sie als Journalisten, es überfordert die Fernsehzuschauer und zu einem gewissen Maß auch unsere Spender. Wir merken das zum Beispiel daran, dass uns für Kriegsopfer nicht einmal zehn Prozent der Spendengelder zur Verfügung stehen, die für die Opfer von Naturkatastrophen gespendet werden. Kriege und militärische Konflikte überfordern uns durch die kaum zu ertragende Grausamkeit der Bilder, die uns entgegenschlagen. Und es überfordern uns oftmals auch die komplexen politischen, religiösen und humanitären Gemengelagen, die nur schwer durchschaubar sind.
Wenn dem so ist, dann beginnt das Leid der Menschen aus den Nachrichten zu verschwinden. Und es wird noch schwieriger politische wie humanitäre Unterstützung zu mobilisieren. Wir haben aus diesem Grund in diesen Tagen gemeinsam mit der Diakonie Katastrophenhilfe unter dem Motto "Die größte Katastrophe ist das Vergessen" eine Ökumenische Sommeraktion gestartet, um zumindest einige der übersehenen, verdrängten oder vergessenen Katastrophen ins Bewusstsein zu rücken. Besser gesagt: Das vergessene Leid der Menschen, das oftmals hinter den Krisen zu verschwinden droht. Dazu gehört vor allem, aber nicht nur das Leid der Menschen in den drei von Prälat Neher genannten Ländern, für die in diesem Jahr der humanitäre Notstand ausgerufen worden ist.
Lassen sie mich mit dem Südsudan beginnen, denn dort spitzt sich die Lage für die Zivilbevölkerung in diesen Wochen dramatisch zu. So dramatisch, dass schon in wenigen Wochen zehntausende Südsudanesen an Hunger sterben könnten. Ausdrücklich müssen wir vor einer Hungersnot für Teile des Südsudan warnen - auch wenn man mit solchen Warnungen nicht leichtfertig umgehen darf. Glücklicherweise kommt es ja nur sehr selten zu Hungersnöten. Zuletzt im Jahr 2011 in Teilen Ostafrikas. Im Südsudan aber ist diese Gefahr jetzt in diesen Tagen wieder konkret. Und erneut ist es, wie 2011 in Somalia, ein Krieg, der dazu führt, dass die strukturelle Armut und chronische Mangelernährung für die Menschen lebensbedrohlich werden.
Mehr als 50 Prozent der neun Millionen Südsudanesen leben unterhalb der Armutsgrenze, die Zahl der mangelernährten Kinder hat sich seit Januar in kurzer Zeit auf jetzt 235.000 Jungen und Mädchen verdoppelt. 50.000 Kinder sind akut vom Tod bedroht. Das sind erschreckende, ja: beschämende, Zahlen. Diese Kinder sind Opfer einer von Menschen gemachten humanitären Katastrophe. Eines Krieges, der schon jetzt zum direkten Tod von mehr als zehntausend Menschen und der Vertreibung von Millionen Flüchtlingen geführt hat sowie durch seine schleichende Wirkung womöglich noch vielen weiteren Tausend Menschen das Leben kosten könnte. Es handelt sich um eine angekündigte Katastrophe, von der weite Teile der Öffentlichkeit in Deutschland bislang allerdings kaum Notiz genommen haben.
Doch das Hinschauen wäre wichtig. Denn noch haben wir die Möglichkeit einzugreifen. Das Notwendige liegt auf der Hand: Der diplomatische Druck muss Aufrecht erhalten werden, damit das brüchige Friedensabkommen, das die Beteiligten schon jetzt wieder in Frage stellen, eingehalten wird. Und die Hilfe muss ausgeweitet werden. 50.000 Menschen erreichen wir als Caritas derzeit. Das ist viel, aber noch zu wenig. Es muss mehr werden. Und schließlich muss dem Konflikt langfristig der Boden entzogen werden. Der Südsudan ist ein fruchtbares Land mit großem Ölreichtum. Trotzdem lebt jeder zweite Südsudanese, unterhalb der Armutsgrenze. So lange den Südsudanesen ihr eigener Reichtum vorenthalten wird, werden sich immer verzweifelte und empörte Menschen finden, die schnell bereit sind, bei politischen Konflikten gegen Geld zu den Waffen zu greifen.
Die Brutalität der militärischen Kämpfe hat weltweit zugenommen. Neben dem Südsudan ist der Konflikt im Irak ein weiteres trauriges Beispiel dafür. Die Zahl der Gewaltopfer, die wir in unseren Gesundheits- und Sozialzentren im Irak versorgen müssen, steigt seit Jahren, ohne dass es von der Weltöffentlichkeit zur Kenntnis genommen worden wäre. Aktuell haben Schutzsuchende in den Caritas-Zentren im Norden des Landes sowie nahe der umkämpften Stadt Mossul in der Ninive-Ebene Aufnahme gefunden. Besonders dramatisch ist die Lage in den Flüchtlingscamps im kurdischen Autonomiegebiet, wo bereits zuvor syrische Flüchtlinge und Vertriebene lebten. Der Ansturm ist so groß, dass die vorhandenen Lagerkapazitäten auf keinen Fall ausreichen werden. Aktuell bemühen wir uns deshalb gemeinsam mit der Caritas Irak im Norden des Landes noch einmal zusätzlich 10.000 Menschen mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen.
Aber das ist äußerst schwierig. Nicht zuletzt deshalb, weil auch die Mitarbeiter der Caritas Irak, die versuchen die humanitäre Hilfe im Land fortzuführen, als Christen seit Jahren gezielten Angriffen ausgesetzt sind. Es leben laut Angaben der katholischen Kirche kaum noch 350.000 Christen im Irak. Von einstmals 25 Prozent wäre der christliche Anteil damit auf heute nur noch wenig mehr als ein Prozent der Bevölkerung gesunken. Auch die Caritas Irak leidet unter dem hohen Emigrationsdruck. Aufgrund der wachsenden Gewalt, der allgemeinen Perspektivlosigkeit und gezielten Drohungen haben zahlreiche Mitarbeiter die Caritas und das Land verlassen. In einzelnen Quartalen bis zu 16 Mitarbeiter. Es ist umso bewundernswerter, was die Kollegen in der schwierigen Situation aktuell zu leisten im Stande sind.
Sehr geehrte Damen und Herren, es gibt eine internationale Verantwortung zum Schutz der irakischen Zivilbevölkerung. Wir sehen die Lösung des Konfliktes jedoch nicht in einem militärischen Eingreifen. Das kann nur das letzte Mittel sein, um die Waffen zum Schweigen zu bringen, es löst aber die ursächlichen Probleme nicht, wie wir in der Vergangenheit wiederholt auch in anderen Konflikten erlebt haben. Der Irak braucht eine Regierung, die mit allen politischen, ethnischen und religiösen Kräften zusammenarbeitet, aber sicher keine Ausweitung der Kämpfe. Ein militärisches Eingreifen von außen im Irak, würde die Lage der Flüchtlinge nicht verbessern. Im Gegenteil: Die politische und militärische Lage im Irak ist so unübersichtlich, neue politische Allianzen würden den Konflikt wahrscheinlich weiter verschärfen.
Der Irak und Südsudan sind eklatante Beispiele für ein Verdrängen lange bekannter Probleme und ein Versagen der Politik. Treffender als mit dem Motto unserer Ökumenischen Sommeraktion kann man den Kern beider Konflikte aus meiner Sicht kaum zusammenfassen: "Die größte Katastrophe ist das Vergessen". Für die Weltöffentlichkeit waren diese Katastrophen vergessen, während die Bevölkerung vor Ort seit langem unter diesem Vergessen gelitten hat. Seit 2003 leisten wir aufgrund der Vertreibungen im Irak Nothilfe. Es gab aber in dieser Zeit keine ernsthaften internationalen Bemühungen, zur friedlichen Lösung des Konfliktes beizutragen. Im Südsudan sieht es nicht viel anders aus: Lange gab man sich nach der Staatsneugründung 2011 dort der Illusion hin, mit der Beilegung des Konfliktes zwischen dem Süden und dem Norden des Sudan sei die Region befriedet. Ignorierte dabei aber das große Konflikt- und Gewaltpotenzial, das in der Staatengründung liegt und eine engere Begleitung nötig gemacht hätte.
Nach dem "Ruanda-Trauma" 1994 waren wichtige Initiativen wie "Responsibility to Protect", die ursprünglich Prävention und zivile Konfliktbearbeitung zum Ziel hatten, mit großen Hoffnungen gestartet worden. Wir stellen mit großem Bedauern fest, dass in der Praxis die Visionen und Hoffnungen einer Ernüchterung und Ratlosigkeit gewichen sind. Zivile Konfliktbearbeitung spielt in den politischen Diskussionen quasi keine Rolle mehr. Wenn überhaupt in schwelenden Konflikten eingegriffen wird, dann doch zumeist mit militärischen Mitteln. Wir halten das für einen Irrweg. Die Beispiele gescheiterter militärischer Interventionen sind zahlreich. Wir ziehen jedoch bislang keine Konsequenzen daraus. Es ist an der Zeit, dass wir die Frage, wie wir Kriege verhüten und diese friedlich beenden können, wieder neu auf die Tagesordnung setzen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Oliver Müller
Leiter Caritas international