Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Damen und Herren,
als Hilfswerk für Not- und Katastrophenhilfe werden wir dann aktiv, wenn Menschen nicht mehr in der Lage sind, sich selbst zu helfen. Das ist typischerweise während und nach Kriegen wie in Syrien der Fall. Prälat Neher berichtete eben davon. Oder aber nach Naturkatastrophen wie jüngst nach dem Erdbeben in Nepal.
Mehr als 8.700 Menschen kamen in Nepal als Folge der beiden Beben vom 25. April und 13. Mai ums Leben. Zehntausende wurden verletzt, zwei Millionen Familien haben ihre Häuser und Wohnungen verloren. Bis zum heutigen Tag sind 2.8 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen, davon 864.000 in schwer erreichbaren Bergregionen. Seit mehr als zwei Monaten befinden sich die Caritas Nepal und die internationalen Caritas-Helfer in einem Wettlauf gegen die Zeit. Bislang konnten wir als Teil des internationalen Caritasnetzwerkes und gemeinsam mit dessen nepalesischen Mitarbeitern 197.000 Menschen unter anderem mit Notunterkünften, medizinischer und psychosozialer Hilfe sowie Lebensmitteln erreichen. Aktuell arbeiten wir mit Hochdruck daran, vor allem die Betroffenen in den schwer erreichbaren Bergregionen mit Vorratspaketen für drei Monate auszustatten, damit sie für die Zeit des Monsun, der in diesen Tagen mit starken Regenfällen einsetzt, gut gerüstet sind. Knapp drei Millionen Euro der insgesamt mehr als zwölf Millionen Euro Spendengelder und Zuschüsse, die uns als Caritas international für die Erdbebenhilfe anvertraut worden sind, fließen in diese Nothilfe.
Parallel zur akuten Nothilfe, die noch eine Weile wird fortgesetzt werden müssen, plant das internationale Caritasnetzwerk bereits den Wiederaufbau in den Bergdörfern der Distrikte Sindhupalchok, Kavre, Nuwakot und Dholaka. Wiederaufbau heißt für uns, Menschen bei der Schaffung von neuem Wohnraum zu unterstützen, die den Folgen der Katastrophe besonders schutzlos ausgeliefert waren: Das ist die arme Landbevölkerung in den Bergregionen, das sind ganz konkret Kinder sowie behinderte, kranke und alte Menschen. Denn getötet hat das Erdbeben vor allem die Menschen, die sich erdbebensichere Häuser nicht leisten konnten. Das Beben hat die obdachlos gemacht, die schon zuvor wenig hatten. Armut ist laut den Vereinten Nationen im Zusammenhang mit Naturkatastrophen die Hauptursache für Todesfälle. Weil in Nepal die Zahl der Armen besonders hoch ist, war auch die Zahl der Todesopfer besonders hoch. Wieder einmal, so wie bei vielen anderen Naturkatastrophen zuvor, erleben wir auch in Nepal, dass erst Armut Katastrophen katastrophal macht.
Nepal ist eines der ärmsten Länder Asiens. 83 Prozent der Menschen leben auf dem Land, davon 25 Prozent in extremer Armut. Deshalb wäre es in unseren Augen fatal, wenn die überkommenen feudalen Strukturen, die in weiten Teilen Nepals eine gesellschaftliche Teilhabe der Armen bis heute verhindern, durch die Erdbebenhilfe nicht in Frage gestellt und durch Förderung von Solidarität verändert werden würden. Karitatives Wirken ohne sozialpolitische Lösungsansätze greift zu kurz. Mit Mitleid dürfen wir uns nicht zufrieden geben. Wir verstehen es deshalb als unseren Auftrag, durch unsere Erdbebenhilfe auch zur Überwindung von Armut und Ungerechtigkeit beizutragen. Deshalb gilt unser Hauptaugenmerk beim Wiederaufbau den genannten benachteiligten Bevölkerungsgruppen in Bergdörfern. Gemeinsam mit 25.000 Menschen der armen Landbevölkerung hoffen wir, ihre Dörfer wieder aufbauen zu können - und das möglichst noch vor dem Einbruch des Winters.
Aber nicht nur die Frage, wie viele Häuser wir bauen ist uns als Caritas wichtig. Dieser quantitative Aspekt ist nur die eine Seite unserer Hilfe. Genauso wichtig ist uns die Frage, wie wir die Hilfe leisten und welche qualitative Wirkung wir langfristig erzielen. Wir haben deshalb im vergangenen Jahr die Studie "Weaving hopes after disasters" in Auftrag gegeben, von denen wir einige Exemplare ausgelegt haben. Diese Studie sucht Antworten auf die Frage, wie wirksam unsere Hilfe nach Erdbeben, Überschwemmungen und dem Tsunami von 2004 in Indien war. Solche Evaluationen gehören seit einigen Jahren standardmäßig zum Handwerkszeug von Entwicklungs- und Katastrophenhelfern. Für gewöhnlich geben externe Gutachter die Antworten. Uns war es hier jedoch wichtig, die betroffenen Hilfeempfänger selbst zu Wort kommen zu lassen. Schließlich sind sie es, denen unsere Arbeit gilt. Und sie sind es, die am besten beurteilen können, was unsere Hilfe bewirkt hat und ob sie auch langfristig Wirkung gezeigt hat. Dieser Ansatz ist in dieser Form selten zuvor in dieser Tiefe und Breite angewandt worden.
Hier die drei wichtigsten Ergebnisse:
1. Die Zufriedenheit der Hilfeempfänger ist umso größer, je stärker sie an der Hilfe beteiligt waren. Die Betroffenen wollen gefragt werden, was sie brauchen.
2. Die Zufriedenheit der Hilfeempfänger ist umso größer, je länger die Helfer und Sozialarbeiter die Betroffenen nach der Katastrophe begleitet haben. Naturkatastrophen sind derart existenzielle Krisen, dass eine langfristige Begleitung entscheidend ist für die Zufriedenheit der Betroffenen mit der Hilfe.
3. Hohe Wertschätzung genießt die psychosoziale Unterstützung, die aus sozialer Begleitung und aus Hilfe zur Überwindung von Traumata nach existenziellen Erlebnissen wie Erdbeben besteht. Voraussetzung ist allerdings eine entsprechende Qualifizierung der Helfer.
Was heißt das nun für unsere Erdbebenhilfe in Nepal?
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass von Naturkatastrophen betroffene Menschen nicht in Abhängigkeit geraten wollen, sondern möglichst bald ihr Leben selbst wieder in die Hand nehmen. Das gilt in Indien wie in Nepal. Wir als Hilfsorganisationen sollten die Betroffenen deshalb nicht in erster Linie als passive Hilfsempfänger betrachten sondern als soziale Akteure, als Experten ihres eigenen Lebens. Das ist naturgemäß nicht immer und überall möglich, etwa wenn es um die Hilfe für alte und behinderte Menschen geht. Aber sicher doch viel öfter, als das bislang der Fall ist. Zum Beispiel beim Wiederaufbau von Wohnhäusern. Die Beteiligung erhöht dabei nicht nur die Zufriedenheit der Betroffenen, sondern kann in Planung und Umsetzung nach unseren Erfahrungen sogar die Qualität der Arbeit verbessern. Sei es durch das Wissen der Betroffenen um traditionelle Bauweisen, sei es durch das Einbringen ihrer Vorstellungen in die Planung der Häuser, sei es durch die Mithilfe in der Bauphase. Dieses eigene Anpacken und Mitgestalten leistet im Idealfall sogar seinen Teil zur Bewältigung des Traumas. Solche Effekte werden nicht erzielt, wenn von Baufirmen in kurzer Zeit Standardhäuser erstellt werden.
Katastrophenhilfe darf kein Strohfeuer sein. Zu viele Hilfsorganisationen verschwinden nach der Nothilfe schnell wieder und lassen die Menschen allein. Ein Blick in die Statistiken zeigt, dass nach medialen Großkatastrophen die Zahl der Hilfsorganisationen in den betroffenen Ländern sprunghaft ansteigt und wenige Monate nach dem Ereignis wieder stark abfällt. Das haben wir nach dem Tsunami in Sri Lanka und Indonesien wie auch nach dem Erdbeben in Haiti erlebt und wir erleben es auch jetzt wieder in Nepal. Allein 341 Hilfsorganisationen sind bei den Vereinten Nationen registriert und koordinieren sich entsprechend. Erfahrungsgemäß liegt die Zahl der unkoordinierten Helfer und Hilfsorganisationen aber deutlich höher. Wir würden uns wünschen, dass die Koordination von allen noch ernster genommen würde und hoffen, dass das humanitäre Engagement kein Strohfeuer bleibt. Die Rückmeldungen der Teilnehmer unserer Studie zeigen uns, dass dauerhaftes Engagement geschätzt wird. Entsprechend langfristig legen wir unsere Erdbeben-Hilfe in Nepal an. Mindestens drei Jahre werden wir mit unserer Erdbebenhilfe an der Seite der Betroffenen stehen. Als Organisation werden wir selbstverständlich auch darüber hinaus gemeinsam mit unserem Partner, der Caritas Nepal, für die Entwicklung des Landes arbeiten.
Die hohe Wertschätzung der Betroffenen für die psychosoziale Hilfe ist nicht gänzlich überraschend. Das Zuhause liegt in Trümmern, viele der Erdbebenopfer haben Freunde und Verwandte verloren. Sie sind verängstigt und haben Schlafstörungen, weil die Bilder der Verwüstung sie nicht loslassen. Im Nepal hat gerade auch das zweite starke Beben drei Wochen nach dem ersten die Menschen nachhaltig erschüttert und verunsichert. Dass viele Menschen in einer solchen Situation emotionale und verlässliche Hilfe brauchen, liegt auf der Hand. Andererseits ist es für uns immer wieder eine große Herausforderung, therapeutisch ausgebildetes Personal in ausreichend großer Zahl zu rekrutieren. Zumeist ist fachliche Expertise nicht nutzbar, weil den ausländischen Experten Kultur und Sprache fremd sind. Gleichzeitig fehlt aber in unseren Projektländern oft das fachliche Know-how. Wir versuchen dann - wie in der Vergangenheit beispielsweise in Afghanistan oder Indonesien- Personal auszubilden. In Nepal gehen wir unterschiedliche Wege. Zum einen konnte über unsere Partner der Caritas Indien unmittelbar nach dem Beben indisches Fachpersonal gefunden werden. Zum anderen werden wir nepalesisches Personal ausbilden in "Training for Trainers"-Kursen.
Sehr geehrte Damen und Herren, der skizzierte Weg ist anspruchsvoll. Je stärker die betroffene Bevölkerung an der Hilfe beteiligt wird, desto langwieriger wird im Einzelfall die Hilfe auch sein. Wir brauchen also Zeit und das Vertrauen der Bevölkerung. Aber nur so respektieren wir ihre Würde und fördern ihre Fähigkeiten zur wirklichen Selbst-Hilfe. Einfache und schnelle Standardlösungen gibt es in der nachhaltigen Katastrophenhilfe nicht. Jede Katastrophe ist anders, mit Blaupausen ist in der Katastrophenhilfe nicht viel zu erreichen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Oliver Müller
Leiter Caritas international