Es gilt das gesprochene Wort!
Sehr geehrte Damen und Herren,
sehr herzlich begrüße ich Sie hier am Berliner Sitz des Deutschen Caritasverbandes zur Vorstellung des Jahresberichtes 2014 unseres Hilfswerkes Caritas international. Zwei Themen sollen die nächste halbe Stunde bestimmen: Herr Dr. Müller wird Ihnen unsere Zwischenbilanz nach dem Erdbeben in Nepal präsentieren. Zuvor aber möchte ich an das Schicksal der syrischen Flüchtlinge erinnern, das in den vergangenen Wochen und Monaten aufgrund der politischen und militärischen Entwicklungen eine dramatische Wendung erfahren hat.
Vier Jahre dauert mittlerweile der Krieg in Syrien und zum dritten Mal stellen wir seit Ausbruch dieses Konfliktes das Schicksal der syrischen Kriegsopfer in den Mittelpunkt unserer Jahrespressekonferenz. Angesichts der dramatischen Not in vielen anderen unserer Projektländer - ich denke etwa an Afghanistan, Nordkorea oder den Südsudan - haben wir uns gefragt, ob diese ungewöhnliche Fokussierung auf ein und dieselbe humanitäre Krise in so kurzer Zeit gerechtfertigt ist.
Wir haben uns schließlich dafür entschieden, Syrien erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Ausschlaggebend waren zwei Argumente: Zum einen haben wir in Syrien nie zuvor ein solches Ausmaß an Gewalt und Not erlebt wie in diesen Monaten. Zum anderen hat die Aufmerksamkeit für den Konflikt deutlich abgenommen, insbesondere für das Leid der Zivilbevölkerung. Das liegt vermutlich daran, dass es kaum noch politisch-diplomatische Initiativen zur Befriedung des Konfliktes gibt. Und es hat sicher auch damit zu tun, dass es Journalisten wie Ihnen gar nicht mehr zumutbar ist, sich den Gefahren dieses Konfliktes auszusetzen. So fehlen uns in den Nachrichten mittlerweile Dokumente des Leids, was den Eindruck erweckt, es gebe nichts Neues zum Konflikt zu sagen.
Dieser Eindruck ist jedoch vollkommen falsch. Die Lage für die Zivilbevölkerung hat sich in den vergangenen Monaten dramatisch verändert. So dramatisch wie in keinem der Jahre zuvor. So haben die Syrer 2014 das blutigste Kriegsjahr seit Ausbruch des Konfliktes durchlitten. Mindestens 71.000 Menschen sind vergangenes Jahr den Kämpfen zum Opfer gefallen; so viele wie in keinem Jahr zuvor. Gleichzeitig hat sich die Zahl derer, die in Syrien auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, innerhalb dieses Jahres auf 12,2 Mio. Menschen verdoppelt. Von diesen 12,2 Mio. Menschen können wiederum 4,8 Mio. aufgrund der Kämpfe und der Missachtung des humanitären Völkerrechtes durch die Kriegsparteien gar nicht oder nur sporadisch von humanitärer Hilfe erreicht werden; fast doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Diese Aufzählung trauriger Rekordmarken ließe sich fortführen, aber ich denke bereits diese Auswahl zeigt: Nichts ist wie zuvor in Syrien. Jeder Tag bringt für die syrische Zivilbevölkerung neue, schlechte Nachrichten, ohne dass davon über einen kleinen Kreis besonders Interessierter hinaus Notiz genommen würde.
Während die Gewalt und das Leid in Syrien wuchsen - das ist die zweite wichtige Entwicklung der vergangenen Monate, auf die ich Sie aufmerksam machen möchte - begannen die syrischen Nachbarländer, die sich bislang äußerst gastfreundlich gezeigt hatten, in den vergangenen Monaten ihre Türen für syrische Flüchtlinge zu schließen. Zunächst leise und weitgehend unbemerkt, dann im Laufe des Jahres 2015 immer vehementer. Erste Anzeichen dafür haben wir Ende 2014 verzeichnet, ehe der Libanon im Januar 2015 die Einreisebestimmungen und das Aufenthaltsrecht für Flüchtlinge schließlich drastisch verschärfte. So werden Syrer seitdem nur noch dann ins Land gelassen, wenn sie vermögend sind, es medizinisch zwingend erforderlich ist oder sie einen Termin bei einer ausländischen Botschaft haben. Seit Mai unterbindet die libanesische Regierung nun auch noch jedwede Registrierung von Flüchtlingen. Zeitweise wurden Flüchtlinge sogar de-registriert, die bereits auf Wartelisten des UN-Flüchtlingshilfswer-kes standen.
Nicht viel besser sieht es in Jordanien aus, wo ebenfalls 2014 die Einreisebestimmungen verschärft wurden. Seit Februar dieses Jahres beobachten wir, dass hunderte, zeitweise tausende Menschen aufgrund der verschärften Einreisebestimmungen im Niemandsland des syrisch-jordanischen Grenzgebietes hausen. Und auch in der Türkei, dem wichtigsten Zufluchtsort für Syrer, sind mittlerweile verschärfende Vorschriften für den Grenzübertritt eingeführt worden. Für eine breitere Öffentlichkeit wurde das erstmals augenscheinlich, als vor zwei Wochen türkische Sicherheitskräfte tausende Menschen, die vor den heftigen Kämpfen um die Stadt Tal Abjad flohen, am Grenzübertritt hinderten.
Aufgrund dieser drastischen Verschärfung der Einreisebestimmungen gibt es für syrische Flüchtlinge derzeit keinen sicheren Hafen mehr. Von 34 Grenzübergängen ist für sie aktuell nur eine Handvoll geöffnet bzw. passierbar. Die Lage der syrischen Flüchtlinge ist somit wortwörtlich ausweglos. Tausende Kriegsopfer wurden in den vergangenen Monaten bereits an den Grenzen abgewiesen; ihr Schicksal ist weitgehend unbekannt. Sie sind mehr denn je schutz- und wehrlos Terror, Gewalt und Vertreibung ausgeliefert.
Auch wenn ich die neuen Einreisebestimmungen nicht gutheiße, fällt es mir ich schwer, die syrischen Nachbarländer zu kritisieren. Solche Kritik an Ländern, die sich bislang über die Maßen gastfreundlich gezeigt haben, erschiene mir unangemessen. Allein der politisch höchst fragile libanesische Staat mit seinen etwa viereinhalb Millionen Einwohnern beherbergt derzeit 1,2 Mio. registrierte syrische Flüchtlinge.
Ich meine die von mir beschriebenen jüngsten Entwicklungen, die in ihrer ganzen Tragweite noch kaum Beachtung in unserer Öffentlichkeit gefunden haben, können nicht ohne Auswirkungen auf unser Handeln in Deutschland und Europa bleiben. Dabei erkennen wir sehr wohl an, dass der Bund und auch die meisten Bundesländer sich gegenüber den syrischen Flüchtlingen gastfreundlicher gezeigt haben als viele andere europäische Regierungen. Immerhin haben wir in Deutschland seit Ausbruch der Syrien-Krise rund 100.000 syrische Flüchtlinge bei uns aufgenommen. Nichtsdestotrotz zeigen uns die Ereignisse dieser Tage, dass die bisherigen Antworten unzureichend sind, zumal im europäischen Kontext. In Bezug auf die syrischen Flüchtlinge stehen sie in keinem Verhältnis zu dem, was Länder wie Jordanien, der Libanon und die Türkei leisten und geleistet haben.
Der Deutsche Caritasverband setzt sich weiter dafür ein, dass Deutschland für diejenigen offen ist, die aus den Kriegsgebieten des Irak und Syriens fliehen. Wir unterstützen ferner eine deutliche Erleichterung der Familienzusammenführung. Bislang müssen sich syrische Familien, die ihre Verwandten nachholen wollen, bei einigen Aufnahmeprogrammen verpflichten, auf unabsehbare Zeit für die volle Lebensunterhaltssicherung der Nachziehenden aufzukommen. Das führt in vielen Fällen zu unzumutbaren finanziellen Belastungen für die Familien. Bei weiteren Landesaufnahmeprogrammen sollten deshalb unseres Erachtens solche Verpflichtungserklärungen auf maximal ein Jahr befristet werden.
Und schließlich führt drittens aus meiner Sicht kein Weg daran vorbei, dass Deutschland - ungeachtet der Verantwortung anderer Staaten, zum Beispiel aus der arabischen Welt - sich noch stärker finanziell in den syrischen Nachbarländern an der Flüchtlingshilfe beteiligen muss. Ende 2014 hatte die internationale Gemeinschaft nur 54 % der eigentlich benötigten finanziellen Mittel für die Versorgung der Flüchtlinge außerhalb Syriens bereitgestellt; für das Jahr 2015 sind sogar erst knapp über 20 % erreicht. Diese Unterfinanzierung hat gravierende Auswirkungen auf das Leben der Flüchtlinge. So musste das World Food Programme (WFP) den Wert der Lebensmittelkarten von 23 US Dollar auf 13 US Dollar reduzieren. Das heißt, dass selbst registrierte syrische Flüchtlinge nur noch 13 US Dollar pro Monat zur Verfügung gestellt bekommen, um Nahrungsmittel zu kaufen. Dazu muss man wissen, dass mehr als 500.000 syrische Flüchtlinge im Libanon aufgrund der Unterfinanzierung gar keinen Zugang zu diesen Lebensmittelkarten haben. Die Folgen, wie wir sie vor Ort erleben, sind dramatisch: Die Familien essen weniger, sie ernähren sich extrem einseitig, Kinder werden aus der Schule genommen, Kinderarbeit und Prostitution nehmen zu.
Ich bin mir sicher, dass sich für die von mir vorgeschlagenen Maßnahmen und die damit verbundenen Kosten ein breiter Konsens in Deutschland finden lässt. Die Solidarität mit Flüchtlingen, speziell syrischen Flüchtlingen, ist erfreulicherweise in Deutschland überaus groß. Die vielen bürgerschaftlichen Initiativen, die Flüchtlingen das Ankommen bei uns erleichtern, zeigen sehr eindrücklich. Nicht zuletzt zeigt mir das auch die positive Resonanz auf unsere entsprechenden Spendenaktionen für syrische Flüchtlinge und die diesjährige ökumenische Sommeraktion mit dem Titel "Die größte Katastrophe ist das Vergessen", die wir gemeinsam mit der Diakonie Katastrophenhilfe dem Schicksal der syrischen und irakischen Flüchtlinge gewidmet haben.
Sehr geehrte Damen und Herren! Lassen Sie mich nun noch einen Blick auf die Zahlen des vergangenen Jahres werfen. Dank der großen Solidarität unserer Spenderinnen und Spender, wie auch der öffentlichen Geldgeber mit den syrischen Flüchtlingen konnten wir im vergangenen Jahr in Syrien, in Jordanien und dem Libanon Hilfsprojekte im Umfang von mehr als 7,8 Mio. € bewilligen. Das sind rund 13% aller von uns eingesetzten Mittel in Höhe von 59,61 Mio. €. Mit dieser Summe konnten wir vergangenes Jahr insgesamt 659 Projekte in 73 Ländern finanzieren. Annähernd 70 % der Projekte umfasste dabei die Hilfe nach Naturkatastrophen und Kriegen. Die restlichen 30 % machten soziale Projekte für Kinder sowie alte, kranke und behinderte Menschen aus. Die Verwaltungskosten lagen bei 8,75 %.
An Spenden und Zuschüssen sind dem Deutschen Caritasverband für sein Hilfswerk Caritas international im vergangenen Jahr 68,87 Mio. € für die Projektarbeit anvertraut worden. 30,46 Mio. € dieser Gesamteinnahmen stammen von privaten Spendern. Ein erheblicher Teil dieser privaten Spenden, 10,92 Mio. €, wurden uns für die Unterstützung der irakischen und syrischen Flüchtlinge im Nahen Osten zur Verfügung gestellt. An öffentlichen Zuschüssen und Kirchensteuermitteln standen uns 34,62 Mio. € zur Verfügung.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Prälat Dr. Peter Neher
Präsident des Deutschen Caritasverbandes