Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren,
seit mehr als fünf Jahren erreichen uns immer neue Schreckensmeldungen aus Syrien. Als ich vor wenigen Monaten nach Syrien gereist bin, hörte ich kurz zuvor im Radio einen Beitrag, den der Kommentator mit den Worten beschloss: „Wenn es einen Namen für die Hölle auf Erden gibt, dann ist es Syrien“. Ich musste während meines Besuches bei unseren lokalen Partnern oft über diese Worte nachdenken. Und ja, in Syrien geschehen weiterhin jeden Tag schreckliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Die Schätzungen der Menschen, die seit Kriegsbeginn im Jahr 2011 ihr Leben lassen mussten, schwanken zwischen 250.000 und knapp 500.000. Angesichts der Sicherheitslage ist es unmöglich geworden, sie zu zählen. Die Zahl der Vertriebenen liegt laut aktuellen Zahlen der Vereinten Nationen aktuell bei 6,6 Millionen Menschen, die Zahl der Syrer, die ihr Land verlassen mussten, bei mehr als 4,8 Millionen Menschen.
Dennoch habe ich während meines Besuchs auch Hoffnung vorgefunden. Und das, obwohl fast alle meiner syrischen Kolleginnen und Kollegen in diesem Krieg Verwandte oder Freunde verloren haben und sich selbst bei ihrer Arbeit allzu oft in Lebensgefahr begeben und weit über ihre Belastungsgrenzen gehen. Trotz aller Widrigkeiten ist ihr Glaube stark, dass sie irgendwann wieder in Frieden in ihrem Land leben können. Wir müssen uns dafür stark machen, dass sie ihre Hoffnung nicht verlieren und sie sich schließlich irgendwann erfüllt.
Wir helfen der Caritas Syrien und unseren anderen Partnern dabei, dass sie ihre so wichtige Arbeit fortsetzen können. Mit insgesamt 2,3 Millionen Euro haben wir im vergangenen Jahr Projekte in Syrien unterstützt, mit 3,66 Millionen Euro solche im Irak. Für die Arbeit in den Nachbarstaaten Syriens im Westen und Süden, im Libanon und in Jordanien, haben wir Mittel in Höhe von 9,2 Millionen Euro eingesetzt. Seit Beginn der Krise hat Caritas international Hilfsprojekte in Syrien und den Nachbarländern mit mehr als 55,5 Millionen Euro unterstützt und mehr als 1 Million Menschen erreicht. Weitere Zahlen und Fakten können Sie unserem Jahresbericht entnehmen, in dem wir der Situation im Nahen Osten ein größeres Kapitel gewidmet haben.
Als ich unsere lokalen Partner besucht habe, konnte ich mit eigenen Augen sehen, dass wir mit unserer Unterstützung einen wichtigen Beitrag leisten, das Leid vieler Menschen zu lindern. Im Großraum von Damaskus kann die Caritas sich weitgehend frei bewegen, auch wenn es immer wieder zu Anschlägen und anderen Gewaltakten kommt. In der Hauptstadt gibt es Lebensmittel und andere Waren auf dem Markt zu kaufen. Doch vielen Familien fehlt das Geld, um sie zu bezahlen. Unser Ansatz ist es, die am stärksten Betroffenen dabei zu unterstützen, ihre Grundversorgung zu sichern. Dazu haben wir Rahmenvereinbarungen mit verschiedenen Läden in der Stadt getroffen, in denen bedürftige Familien mit Caritas-Gutscheinen die Güter kaufen können, die sie zum täglichen Leben brauchen.
Das System hat sich bewährt. Es ist sehr einfach und effektiv und spart im Vergleich zu Hilfsgüterverteilungen außerdem Verwaltungs-, Transport- und Lagerkosten. Und nicht zuletzt gibt es den Menschen ihre Selbstbestimmtheit und damit ein Stück ihrer Würde zurück. Auf dem World Humanitarian Summit in Istanbul im Mai wurde dieser Ansatz, Menschen in akuten Notlagen mit Geld oder Gutscheinen auszustatten, quasi zum neuen „Status Quo“ in der Humanitären Hilfe erhoben. Wir gehen diesen Weg schon seit längerer Zeit. Voraussetzung für ein Funktionieren dieses Ansatzes ist jedoch immer ein Funktionieren der lokalen Märkte. Und zumindest in der Hauptstadt Damaskus ist diese Voraussetzung trotz aller akuten Versorgungslücken derzeit noch gegeben.
Bei dem besagten humanitären Gipfel in der türkischen Metropole, dem ersten seiner Art, wurde ausdrücklich gefordert, die jeweiligen lokalen Partner bei der Bewältigung akuter Katastrophen perspektivisch zu stärken. Diese Forderung kann ich mit aller Vehemenz unterstreichen. Dass wir unsere Hilfe nicht selbst umsetzen, dass wir keine eigenen Helfer ausfliegen, sondern auf die Expertise unserer lokalen Partner setzen, ist seit jeher ein zentrales Wesenselement unserer Arbeit. Hierfür können wir unter anderem auf eine weltweite Partnerstruktur mit mehr als 160 nationalen Caritas-Organisationen zurückgreifen. Nur die lokalen Helfer vor Ort verfügen über tiefgehende Kenntnisse der Situation, nur sie wissen um die Bedürfnisse der Betroffenen und die genaue Sicherheitslage und nur sie können auf ein großes Netzwerk in dem jeweiligen Land zurückgreifen. Das wurde mir nicht zuletzt bei meinem Besuch in Syrien klar. Es ist bewundernswert, wie unsere Partner in dem Land trotz schwierigster Umstände effektiv Hilfe leisten.
Neben dem Versorgungssystem, das auf Gutscheine setzt, unterstützen wir die Menschen in Syrien mit medizinischen Hilfen, fördern Projekte zur Trauma-Bewältigung und Bildungsprogramme für Kinder und Jugendliche. Neben der Hauptstadt Damaskus sind wir im Grenzgebiet zur Türkei etwa in Hasakah und Qamishli, ebenso wie in Latakia und Horan sowie in Homs und Aleppo über unsere lokalen Partner aktiv. Syrischen Flüchtlingen helfen wir auch in den Nachbarländern, wie erwähnt etwa im Libanon, in der Türkei und in Jordanien sowie, Herr Dr. Neher hat es eben ausführlich dargestellt, auf der Fluchtroute nach Westeuropa. Gerade in Aufnahmeländern wie dem Libanon, in dem rund jeder vierte Mensch ein Flüchtling ist, beziehen wir auch einheimische Familien mit geringem Einkommen in unsere Projekte mit ein. Damit werden wir unserem Anspruch gerecht, den Ärmsten der Armen zu helfen und leisten zudem einen Beitrag, soziale Spannungen zu verringern.
Lassen Sie mich noch kurz auf die Lage in den besonders stark umkämpften Städten in Syrien eingehen, da sie mit der in Damaskus oder den vergleichsweise sicheren Nachbarländern nur schwer zu vergleichen ist. In Aleppo, wo bei Gefechten, Artillerie- und Bombenangriffen schon Zehntausende um Leben kamen, geriet auch das Büro der Caritas in der Vergangenheit unter Beschuss. Ein ehrenamtlicher Mitarbeiter kam als Unbeteiligter bei einem Gefecht ums Leben. Aufgrund der schwierigen Situation kann Hilfe hier nur eingeschränkt geleistet werden. Unsere Partner müssen täglich neu abwägen, ob sie dringend erforderliche Hilfe leisten oder ob das Risiko für das eigene Personal gerade zu groß ist.
Effektiv arbeiten kann in diesem Land nur, wer starke Partner hat, die auf lokale Kenntnisse und freiwilliges Engagement aus den Reihen der Bevölkerung zurückgreifen können und vorhandene gesellschaftliche Organisationsformen wie Gemeinderäte oder lokale Hilfskomitees in ihre Planungen mit einbeziehen. Unsere Partner erfüllen diese Kriterien und ihnen kommt zusätzlich zu Gute, dass sie auf die Hilfe der kirchlichen Einrichtungen vor Ort zählen können.
Doch selbst das beste Hilfsnetzwerk stößt in Syrien an seine Grenzen, weil die Konfliktparteien die Zugänge für humanitäre Hilfe in mehreren Teilen des Landes blockieren. Insgesamt 4,5 Millionen Syrerinnen und Syrer leben in Gegenden, die nicht oder kaum für humanitäre Hilfe zugänglich sind. 592.000 Menschen in 19 belagerten Regionen Syriens sind praktisch von der Außenwelt abgeschnitten.
Eine dieser Regionen liegt im Süden Syriens, direkt an der Grenze zu Jordanien. In den Lagern nahe des Ortes Rukban und am Grenzübergang bei Hadalat sitzen derzeit Zehntausende Menschen fest, die vor den jüngsten militärischen Auseinandersetzungen geflohen sind – und das mitten in der Wüste, bei Temperaturen, die oftmals die 40-Grad-Marke überschreiten. Die jordanische Regierung lässt humanitäre Hilfe aus Sicherheitsbedenken nur in kleinstem Maßstab zu. Wie unsere lokale Fachkraft vor Ort berichtet, wurde der Zugang nach einem Bombenanschlag auf das Camp vor rund drei Wochen noch einmal erschwert. Schätzungen zufolge könnte die Zahl der Menschen, die hier Schutz suchen, von derzeit rund 60.000 auf 100.000 bis zum Ende des Jahres anwachsen. Zum Vergleich sei erwähnt, dass das bisher größte Flüchtlingslager im Nahen Osten im jordanischen Zaatari rund 80.000 Menschen temporären Schutz bietet, mit einer in vielerlei Hinsicht besseren Hilfsinfrastruktur.
Man muss anerkennen, dass Jordanien bereits mehr als 650.000 offiziell registrierte Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen hat. Dennoch darf das Schicksal dieser Menschen, die sich vor der jordanischen Grenze angesiedelt haben, nicht ignoriert werden. Die internationale Gemeinschaft darf nicht dabei zusehen, wie Menschen verdursten oder verhungern – und muss auf eine Öffnung der Grenze für humanitäre Hilfe pochen.
Um Katastrophen wie diese grundsätzlich zu vermeiden, bedarf es verstärkter Bemühungen um einen Friedensschluss in Syrien. Um diesem Appell mehr Gewicht zu verleihen, haben wir gemeinsam mit nationalen Caritas-Verbänden aus aller Welt eine Kampagne mit dem Motto „Frieden ist möglich“ ins Leben gerufen. Eine Kampagne, die Papst Franziskus jüngst mit einer Video-Botschaft unterstützt hat, in der er unter anderem fordert, dass humanitäre Hilfe in allen Teilen des Landes ermöglicht werden muss.
Ich kann mich dieser Forderung nur anschließen und hinzufügen, dass damit auch der Schutz humanitärer Helfer verbunden sein muss. Hier ist auch die internationale Gemeinschaft gefragt, Druck auf die Konfliktparteien auszuüben. Das gilt auch mit Blick auf die Angriffe auf soziale Einrichtungen wie Krankenhäuser, wie es sie in der Vergangenheit mehrfach gegeben hat. Es ist an Perversion kaum zu überbieten, wenn Kampfjets Hospitäler mit Hunderten Zivilisten bombardieren und Ärzte um ihr Leben fürchten müssen, nur weil sie ihren Job machen, auf den sie zudem einen Eid geschworen haben.
Ich möchte des Weiteren an die internationale Gemeinschaft appellieren, Druck auf die Beteiligten in dem Konflikt auszuüben, eine tragfähige Waffenruhe und ein Abkommen zum Schutz der Zivilbevölkerung zu etablieren. Auch möchte ich die Konfliktparteien in Syrien und ihre Unterstützer auffordern, Übereinkünfte über legale Fluchtwege für Menschen zu treffen, die zwischen den Frontlinien festsitzen.
Wir werden nicht aufhören, den Syrerinnen und Syrern in diesen schwierigen Zeiten zur Seite zu stehen. Genauso wenig werden wir nachlassen, uns für eine politische Lösung des Konfliktes stark zu machen. Um es mit den Worten des Papstes zu sagen: Wir glauben nach wie vor daran, dass ein Frieden in Syrien möglich ist.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!