Sehr geehrte Damen und Herren,
auch ich freue mich sehr, Sie alle zu unserer Jahrespressekonferenz begrüßen zu dürfen - sei es hier in Freiburg oder bundesweit am Bildschirm!
Am vergangenen Wochenende bin ich aus Griechenland zurückgekehrt, wo ich auf der Insel Lesbos das Flüchtlingslager Kara Tepe, also das Nachfolgelager von Moria, besichtigt habe (offizieller Name: RIC Lesvos). Aktuell leben in dem Lager direkt am Meer 4330 Personen, die aus 42 Nationen kommen. Die Mehrzahl der Flüchtlinge stammt aus Afghanistan (65 %), aus der Demokratischen Republik Kongo (11 %) sowie aus Somalia (8%) und Syrien (8%).
Beim Besuch des Lagers wird sehr schnell deutlich, dass sich die Verhältnisse im Vergleich zum Lager Moria wesentlich verbessert haben. Das Lager wirkt geordneter und weiträumiger, gleichwohl lebt die Mehrheit der Flüchtlinge weiterhin in Zelten, die weder Schutz vor der Kälte im Winter noch vor der jetzt vorherrschenden großen Hitze im Sommer bieten. Ein flächendeckendes Abwassersystem ist noch immer nicht installiert. Chemische Toiletten stehen oft weit entfernt von den Zeltsiedlungen, was insbesondere von vielen Frauen als Sicherheitsrisiko in der Nacht wahrgenommen wird. Lebensmittel werden in den Zelten aufbewahrt, vor denen am offenen Feuer auch gekocht wird und können nicht gekühlt werden. Die überall im Lager sichtbaren Rattenfallen verweisen auf die daraus entstehenden Probleme.
Die Gesundheitssituation im Camp hat sich nach Aussage der zuständigen Ärztin verbessert. Zunehmende Sorge bereitet jedoch der Anstieg psychischer Erkrankungen, der seine Ursache in den Traumata der Fluchtumstände, aber zunehmend auch in den unsicheren Zukunftsperspektiven der Bewohner_innen hat. Erfreulich ist, dass während meines Besuches kein einziger Corona Fall im Camp zu verzeichnen war. 372 Flüchtlinge konnten bereits gegen COVID-19 geimpft werden. Weitere 2.000 Personen haben sich für eine Impfung angemeldet, wurden jedoch noch nicht geimpft, weil laut griechischer Regierung ihre Registrierung im Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Hierbei ist zu bemerken, dass keinerlei Mangel an Impfstoff auf Lesbos besteht. Es ist absolut unverständlich, den Flüchtlingen diesen Gesundheitsschutz zu verweigern. Zudem können die beengten Lebensverhältnisse jederzeit zu einem weiteren Ausbruch führen.
Was macht nun die Caritas im Lager Kara Tepe? Viele Flüchtlinge des Camps leiden sehr stark unter der erzwungenen Beschäftigungslosigkeit. Insbesondere unter den Bewohner_innen, die bereits zweimal abgelehnt wurden, besteht ein hohes Verzweiflungs- und Konfliktpotenzial. Die von Caritas international finanzierten und von der Caritas Griechenland durchgeführten Hilfsmaßnahmen bieten den Menschen psychosoziale Unterstützung und Integrations-maßnahmen, wie zum Beispiel Sprachkurse an.
Angesichts der extremen Umstände, unter denen die Geflüchteten auf der Insel Lesbos leben, ist das Angebot von psychologischer Hilfe durch die Caritas besonders wichtig. Ein weiteres Arbeitsfeld ist die der Beratung der Menschen bei ihrem Asylantrag. Hierbei geht es oftmals um sprachliche Probleme, wie auch um die Erläuterung der juristischen Verfahren. Es ist für die Betroffenen, insbesondere unter den Bedingungen des Camps oftmals sehr schwer, die bestehenden Fristen - zum Beispiel für einen Einspruch - einzuhalten. Caritas Griechenland bietet auf Lesbos wie auch an den beiden anderen Projektstandorten Athen und Chios Rechtsberatung an und übernimmt bei Bedarf auch die Kommunikation mit Behörden und Gerichten.
Die weitere Zukunft des Camps Kara Tepe und seiner Bewohner_innen ist ungewiss. Nach offiziellen Plänen soll im Frühjahr des kommenden Jahres im Landesinneren von Lesbos - an einem sehr abgelegenen Ort - ein neues Camp eröffnet werden. Der Bau hat jedoch noch nicht begonnen. Dort hätten die Bewohner nahezu keine Möglichkeit, das Lager zu verlassen. Jede Art von Integration, zum Beispiel auch in Schulen, wäre extrem eingeschränkt. Zugleich fällt auf, dass im bestehenden Lager Kara Tepe weitere Bauarbeiten laufen. Es werden auf geschottertem Grund große Zelte mit etwa 25 m Länge errichtet, in die wiederum kleinere Wohneinheiten aus Zelten integriert werden. Diese bieten weder ausreichende hygienische Voraussetzungen, noch stellen sie ein Minimum an Privatsphäre sicher. Viele unserer Gesprächspartner gehen davon aus, dass das bestehende Lager Kara Tepe auch in den nächsten Jahren existieren wird.
Zusammenfassend muss man feststellen, dass sich im Vergleich zum Lager Moria zwar einiges im Lager Kara Tepe verbessert hat, die Lebensumstände im Gesamten aber weiterhin als unzureichend und beschämend zu betrachten sind. Dies hängt mit der fehlenden Wasser- und Stromversorgung zusammen, mit schlechten Hygieneverhältnissen und vor allem auch mit völlig unzureichenden Bildungsangeboten für Kinder und Jugendliche. Es drängt sich der Eindruck auf, dass das Lager Kara Tepe ein sichtbares Zeichen der Abschreckung sein und bleiben soll. Dass Deutschland rund 2.700 Flüchtlinge aus dem Lager aufgenommen hat, ist für die betroffenen Menschen ein großes Glück. Im Sinne aller verbliebenen Flüchtlinge müssen EU und Griechenland dringend handeln.
Leider hat mich auf Lesbos noch eine beunruhigende Nachricht erreicht: Rund 700 besonders schutzwürdige Flüchtlinge, vor allem Familien, die bislang in angemieteten Wohnungen in der Inselhauptstadt Mytilini untergebracht sind, müssen diese im Oktober verlassen - sie sollen in das Camp oder auf das Festland gebracht werden. Speziell für die Kinder, die oftmals bereits die lokale Schule besuchen, wäre dies ein schwerer Schlag.
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Prälat Dr. Peter Neher bewertet die Eindrücke im Hinblick auf die Position des Caritasverbandes zur Asylgesetzgebung an den EU-Außengrenzen.
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Die weltweiten Flucht- und Migrationsbewegungen, über die wir gerade sprachen, sind sicherlich das prägende humanitäre Thema unserer Zeit. Überschattet wird dieses Mega-Thema jedoch von der Corona-Pandemie - auch für uns in der Humanitären Hilfe.
Seit Ausbruch der Pandemie organisieren wir die größte weltweite Hilfsaktion in der Geschichte der Caritas. Nie zuvor hat eine einzelne Krise oder Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg gleichzeitig so viele Todesopfer gefordert und so viele Menschen in existenzielle Not gestürzt wie die Corona-Pandemie. Nie zuvor mussten wir als Hilfswerk so viele Menschen an so vielen Orten der Welt zeitgleich aufgrund der gleichen Notlage unterstützen. Einer Million Menschen halfen wir allein im Jahr 2020, das Jahr, für das wir als Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes heute Bilanz ziehen. Unsere Unterstützung reicht von der medizinischen Hilfe für Erkrankte über Haus-zu-Haus-Lebensmittelverteilungen für alte und behinderte Menschen bis hin zu finanzieller Hilfe für Tagelöhner. Corona hat zu einem rekordverdächtigen Bedarf an Humanitärer Hilfe geführt.
In diesem Jahr, 2021, wird der Bedarf nicht geringer sein. Denn während wir uns in Europa, den USA und Israel allmählich auf eine Normalisierung des Lebens einstellen, schlagen in den meisten unserer 74 Projektländer die Härten der Pandemie jetzt erst so richtig zu: Vielerorts liegt die Zahl der Neuinfektionen auf Rekordniveau, etwa in vielen afrikanischen Ländern, aber auch in Indien und Nepal. Trotz dieser erschreckenden Entwicklung wird die existenzielle Not in vielen besonders schwer von Corona gebeutelten Ländern bei uns kaum zur Kenntnis genommen.
Nehmen Sie etwa Peru, das Land mit der weltweit höchsten Corona-Sterblichkeitsrate. Diese liegt mit 598 Todesfällen pro 100.000 Einwohner fast doppelt so hoch wie im zweitplatzierten Land. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: 70 Prozent der Peruanerinnen und Peruaner arbeiten im informellen Sektor und können es sich nicht erlauben, daheim zu bleiben, um sich und andere zu schützen. Im Gegenteil: Sie müssen Tag für Tag in überfüllten Bussen auf überfüllte Märkte fahren, um ihre Waren zu verkaufen. Und wenn diese Menschen sich dann infizieren, ist eine lebensrettende Behandlung für sie unerschwinglich angesichts eines maroden Gesundheitssystems, das nur tausend Intensivbetten für die zahlungskräftigste Klientel zur Verfügung stellt.
Alle vorsichtigen Hoffnungen auf Wirtschaftswachstum und soziale Fortschritte der vergangenen Jahre sind in Peru dahin. Und Corona macht nun auch die Versäumnisse der vergangenen Jahre und Jahrzehnte überdeutlich: Die staatlichen Einnahmen aus dem Wirtschaftswachstum, insbesondere aus dem erheblichen Gewinn bei der Ausbeutung der Bodenschätze wie Kupfer, Erdöl und Gold, flossen eben nicht in die Gesundheitsvorsorge oder die soziale Absicherung der Menschen. Sonst wären die Auswirkungen von Corona nicht so gravierend, wie wir es derzeit erleben.
Was für Peru gilt, gilt in ähnlicher Weise für Indien oder Nigeria. Wir Hilfsorganisationen hatten als Teil der Weltgemeinschaft in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte erzielen können. Zum Beispiel in der Armutsbekämpfung und dem Gesundheitsschutz. Ich denke auch an die Ausrottung der Kinderlähmung in Afrika, den weltweit starken Rückgang der Kinderarbeit um 38 Prozent oder die Fortschritte bei der Schulung des Gesundheitspersonals. All diese Erfolge drohen uns aktuell zwischen den Fingern zu zerrinnen. Das ist verheerend.
Ich will nur einige markante Beispiele nennen, mit denen wir als Hilfsorganisation derzeit zu kämpfen haben: So sind rund hundert Millionen "neue" Arme in den vergangenen Monaten unter anderem aufgrund der weltweiten Lockdowns in extreme Armut gerutscht. "Alte" ansteckende Krankheiten wie Malaria sind wieder auf dem Vormarsch, weil Impfkampagnen während Pandemie gestoppt werden mussten. Der Hunger steigt. Und an Aids sterben so viele Menschen wie seit Jahren nicht mehr. All diese erschreckenden Entwicklungen machen die weltweite Nothilfe schwieriger und komplexer, aber natürlich auch wichtiger und unentbehrlicher denn je.
Wichtig und unentbehrlich ist auch die weltweite Solidarität, die wir mit unserer Arbeit seit hundert Jahren zu stärken versuchen. Nie war gelebte Solidarität, die unser Markenzeichen ist, so wichtig wie in diesen Tagen. Man kann die einfache Wahrheit nicht oft genug wiederholen: Die Katastrophe der Pandemie ist erst vorbei, wenn sie für alle Menschen weltweit vorbei ist. "Rette sich, wer kann" ist keine Strategie. Solidarität - oder mit einem schlichteren Wort ausgedrückt: Hilfsbereitschaft - ist kein Luxus. Weniger denn je dürfen wir uns als Zuschauer dessen verstehen, was wir jenseits unserer Grenzen an Not und Elend erleben. Sonst wird uns mit dem nächsten Flugzeug die nächste Welle der Pandemie aus Asien, Afrika oder Lateinamerika erreichen. Die Pandemie hat uns allen noch einmal so klar wie nie vor Augen geführt, dass es auf Dauer keine Inseln der reichen Glückseligkeit in einem Meer von Elend und Armut geben kann.
Umso bestürzender ist der Impf-Nationalismus, den wir in den hinter uns liegenden Monaten erlebt haben. Wir haben gesehen, wie einige wenige Länder, die Impfstoffe herstellen und sich leisten können, über das Schicksal der übrigen Welt entscheiden. Wie lebenswichtiges Wissen, das mit erheblichen öffentlichen Geldern geschaffen wurde, sich quasi in Privatbesitz befindet.
Mit einigen wenigen Zahlen möchte ich diesen Zustand illustrieren: 75 Prozent aller Impfdosen weltweit sind in nur zehn Ländern verimpft worden. Von den 1,3 Milliarden Afrikanern haben bislang nur drei Prozent Zugang zu Impfdosen. Herden-Immunität werden wir in Afrika bei diesem Tempo erst Mitte der 2030er Jahre erreichen. Dabei überrollt gerade die dritte Corona-Welle Afrika. Und es gibt noch immer Länder wie den Jemen oder den Tschad, in denen nicht einmal Ärztinnen oder Krankenpfleger geimpft sind.
Was wir derzeit erleben, ist unethisch und ineffizient zugleich.
Das "Vakzin-Vakuum", der Impf-Notstand, ist das derzeit drängendste humanitäre Problem weltweit. Ohne eine Lösung bei der ungerechten Impfstoffverteilung werden wir auch in anderen Fragen der Humanitären Hilfe nicht entscheidend vorankommen können.
Liebe Gäste, das Teilen fertiger Impfdosen wäre sicher der schnellste und effizienteste Weg, den Impf-Notstand zu beheben. Leider hat das Covax-System nicht das gehalten, was wir uns alle anfangs vielleicht davon versprochen hatten. Wir erleben leider, dass in Zeiten akuten Mangels Spenden auf freiwilliger Basis ihre Grenzen haben. Wir müssen deshalb meines Erachtens andere Wege suchen: Beim Kampf gegen Aids haben wir überzeugende Erfahrungen mit der temporären Freigabe von Patenten auf Medikamente gemacht.
Wir plädieren deshalb als weiteren Schritt eines weltweit solidarischen Handelns dafür, bei sämtlichen medizinischen Produkten, die zur Vorbeugung, Behandlung und Eindämmung von Covid-19 nötig sind, den Patentschutz aufzuheben. Wir haben die Bundesregierung und die EU-Mitgliedsstaaten aufgefordert, der Aussetzung des Patentschutzes zuzustimmen. Auch die Ermöglichung von "Zwangs"-Lizenzen und die jetzt diskutierten Technologie-Transferzentren in Südafrika, Senegal und Ruanda wären wichtig, um noch schneller Abhilfe beim Impfstoffmangel zu schaffen. Angesichts der dramatischen Lage weltweit können wir es uns nicht leisten, solche Handlungsoptionen auszuschließen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Oliver Müller
Leiter von Caritas international