Sehr geehrter Herr Erzbischof,
sehr geehrte Damen und Herren,
im vierten Jahr des Bürgerkrieges befindet sich jeder zweite Syrer aufgrund der Gewalt in seiner Heimat auf der Flucht. Das sind mehr als zehn Millionen Menschen. Das syrische Flüchtlingsdrama ist damit die größte humanitäre Katastrophe der vergangenen zehn Jahre.
Über Jahre hinweg war der benachbarte Irak für hunderttausende syrische Flüchtlinge ein Ort, der Schutz und Hilfe bot. Heute jedoch ist das ehemals Schutz bietende Land selbst zum Schauplatz von Gewalt und Terror geworden. Nun sind auch weite Teile des Irak nicht mehr sicher. Mehr als zwei Millionen Iraker mussten allein seit August dieses Jahres ihre Heimat verlassen, als die Terroristen des Islamischen Staates Iraks zweitgrößte Stadt Mossul eingenommen haben.
Irak und Syrien stehen in Flammen. Im Libanon und Gaza schwelen politische und soziale Konflikte, die jederzeit wieder in Gewalt ausbrechen können. "Der Nahe Osten brennt", sagte unlängst der Weihbischof von Jordanien, Erzbischof Maroun Elias Lahham. Die Gefahr ist real, dass die gesamte Region nachhaltig destabilisiert wird.
Die letzte Hoffnung liegt für Angehörige religiöser Minderheiten in vielen Fällen in der Flucht. Wo die Schutz und Hilfe suchenden Menschen in die Caritas-Zentren kommen - sei es in Jordanien, im Libanon, im Irak, in Syrien oder in der Türkei - da begegnet uns extreme Verzweiflung. Der Druck, dem die Flüchtlinge und Vertriebenen ausgesetzt sind, ist unvorstellbar hoch. Die ungewisse Zukunft, die Sorge um die Angehörigen - all das schlägt sich in den Seelen der Flüchtlinge nieder. Viele sind von der Gewalt traumatisiert, das spürt man in jedem Gespräch.
Flüchtlinge hausen in überfüllten Lagern oder müssen sich Plätze in besetzten Hausruinen erstreiten. Viele mieten in ihrer Not überteuerte Schlafplätze in leer stehenden Ladengeschäften oder Fabrikgebäuden an. Garagen, Baracken, Moscheen, Kirchen - jeder Platz wird genutzt, um notdürftig Unterschlupf zu finden. Weil die meisten der Flüchtlinge es ablehnen, in die großen zentralen Lager zu gehen, haben wir auch unsere Hilfe dezentral ausgerichtet. Wir sind an vielen Standorten präsent und bieten ortsnahe Unterstützung. Vielfach suchen unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Flüchtlinge in ihren einfachen Behausungen auf, um das Lebensnotwendigste direkt zu ihnen zu bringen.
Allein im Irak sind auf diese Weise seit dem August 13.000 Hilfsgüterpakete verteilt worden. Insgesamt haben unsere Kolleginnen und Kollegen in den vergangenen Jahren im Irak und in Syrien, in Jordanien, im Libanon und der Türkei bislang mit Unterstützung des weltweiten Caritasnetzwerkes 900.000 Menschen helfen können. Das ist eine kleinteilige und personalintensive Art der Flüchtlingshilfe, die aber den Bedürfnissen der Hilfesuchenden nach einem Mindestmaß an Selbstbestimmung gerechter wird als die großen Lagerlösungen.
Der Hilfebedarf der Flüchtlinge ist so vielfältig wie die Gruppen der Hilfsbedürftigen. Das reicht von der Zusatznahrung für junge Mütter über Schulmaterial für Kinder bis hin zu Windeln für inkontinente alte Menschen. Und das in allen Ländern und Regionen. Die Lage in den verschiedenen Ländern unterscheidet sich diesbezüglich kaum. Laufend muss der Nachschub an dringend benötigten Lebensmitteln, Hygiene- und Haushaltsartikeln, Decken und Matratzen sichergestellt werden. Vorschulkinder, Schulkinder und Studierende werden in formale und nichtformale Bildungsangebote integriert, heranwachsende Mädchen und junge Frauen speziell gefördert. Aber auch psychosoziale Unterstützung für die vielen Traumatisierten, Mietbeihilfen und medizinische Hilfe wie Medikamente und Notoperationen werden geleistet.
Aktuell macht die Kälte den Menschen am stärksten zu schaffen. Dringend werden deshalb in großer Zahl Decken benötigt, warme Kleidung, Heizöfen und Brennstoff. Denn kaum einer der Hilfesuchenden ist auf die Kälte des Winters vorbereitet. Im Irak sind die meisten von ihnen im Sommer bei 45 Grad geflohen. Drei Monate später müssen viele Kinder in diesen Tagen barfuß oder in Sandalen über den von Regen und Schnee aufgeweichten eiskalten Boden laufen. Eine der zentralen Aufgaben dieser Tage ist es deshalb, die behelfsmäßigen Notunterkünfte, oftmals sind es Bauruinen, winterfest zu machen. Seit Ende Oktober werden von uns deshalb beispielsweise im Nordirak Türen, Fenster und Abdichtungsplanen verteilt.
Die Solidarität der Menschen und insbesondere der Katholiken in Deutschland ist beindruckend. Sie äußert sich in den großzügigen Spenden, die über die in der Region tätigen weltkirchlichen Hilfswerke, wie etwa Caritas, Misereor oder Missio den Betroffenen zugutekommen. Sie äußert sich auch in dem Engagement der Bistümer. Hierfür zwei Beispiele: Das Erzbistum Köln hat jüngst bekannt gegeben, zehn Millionen Euro für die Not- und Katastrophenhilfe bereitzustellen, die schwerpunktmäßig für die Kriegsgebiete des Nahen Ostens und in Afrika eingesetzt werden sollen. Das Erzbistum Freiburg hat dem Deutschen Caritasverband mit seinem Hilfswerk Caritas international eine Million Euro für die Winterhilfe im Irak, in Syrien und im Libanon gespendet. Das ist die größte Einzelspende für Konfliktopfer im Nahen Osten, die jemals bei uns eingegangen ist. Insgesamt sind uns in diesem Jahr bereits 8,6 Millionen Euro an Spenden für die irakischen und syrischen Flüchtlinge anvertraut worden. Hinzu kommen 6,7 Millionen Euro, die uns vom Auswärtigen Amt zur Verfügung gestellt wurden. Bei der Umsetzung der Hilfe ist es für uns von großem Vorteil, dass unsere lokalen Partner fest in den Ländern verwurzelt und eng mit den lokalen Pfarrgemeinden, den Behörden und den Organisationen der Vereinten Nationen vernetzt sind.
So zählt die Caritas Irak zu den wichtigsten Akteuren in der aktuellen Nothilfe, ihrer eigenen Schwierigkeiten als Hilfswerk einer verfolgten Minderheit zum Trotz. Neben den rund 30 festangestellten irakischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gibt es ein Heer von Freiwilligen, die sich in den Kirchengemeinden zur Verfügung stellen. Ihr Beitrag ist zentral, wenn es etwa darum geht, die arbeitsintensive und zeitaufwändige Verteilung von Hilfsgütern zu bewältigen. Aus der Schar der Freiwilligen lassen sich aber auch immer wieder fähige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für die Caritas-Zentren gewinnen; was speziell im Irak von großer Bedeutung ist, wo immer wieder Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas aufgrund von persönlichen Bedrohungen und allgemeiner Perspektivlosigkeit, das Land verlassen müssen.
So vielfältig wie der Bedarf sind auch die Wege, auf denen unsere Hilfe zu den Menschen gebracht wird. In Syrien muss vieles im Verborgenen geschehen, manches unter großen Gefahren. Es gleicht oft kleiner Wunder, dass trotz der extrem widrigen Umstände in Syrien durch das Engagement der einheimischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter so viel an Hilfe möglich ist. So gelingt es beispielsweise immer wieder, die meisten Hilfsgüter in Syrien lokal auf den syrischen Märkten zu beschaffen, auch wenn es punktuell immer wieder Engpässe bei Grundnahrungsmitteln wie Brot und bei medizinischem Material gibt.
Um diese Hilfe leisten zu können, sehen wir uns mit schwierigen Gratwanderungen konfrontiert. Tagtäglich müssen in Syrien tätige Organisationen zwischen der dringend erforderlichen Hilfe und den Risiken für die humanitären Helfer abwägen. In vielen Gebieten verlaufen die Konfliktlinien so unübersichtlich, dass Hilfe sehr flexibel gestaltet werden muss. Selten werden bei Verteilungen die gleichen Wege beschritten, Kommunikation muss oft ad hoc im Rahmen bestehender Netzwerke vertrauenswürdiger Personen organisiert werden. Humanitäre Hilfe ist deshalb aus unserer Sicht im Kontext Syriens ohne lokale Kenntnisse, freiwilliges Engagement und die Einbindung vorhandener gesellschaftlicher Organisationsformen wie Gemeinderäte, kirchliche Strukturen oder lokale Hilfskomitees nicht zu leisten.
Auch im Irak stehen unsere Helfer immer wieder im wahrsten Sinn des Wortes im Kreuzfeuer. So mussten im August dieses Jahres drei Sozialzentren der Caritas Irak in den christlichen Orten Qaraqosh, Al-Qosh und Bartilla nach der Eroberung durch Terroristen des Islamischen Staates geschlossen werden. Es zeugt vom außergewöhnlichen Engagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, dass sie die Zentren sofort wieder öffneten, sobald es die Sicherheitslage zuließ.
Die Frage nach Sicherheit und Überleben überschattet derzeit im Nahen Osten alles. Mütter und Väter sehen sich ständig vor die Frage gestellt: Wie kann ich meine Familie vor den Gefahren des Krieges schützen? Wo haben meine Kinder eine lebenswerte Zukunft? Je länger die Konflikte im Nahen Osten dauern, desto mehr verlieren die Flüchtlinge und Vertriebenen den Glauben, jemals in ihre Heimat zurückkehren zu können. War der Wille fast aller syrischen Flüchtlinge in den Jahren 2011 und 2012 noch groß, baldmöglichst in ihre Heimat zurückzukehren, schwindet im vierten Jahr des Krieges diese Hoffnung auf Rückkehr zusehends. Wo sollte die Hoffnung angesichts der hoffnungslosen Nachrichten auch herkommen? Es ist sehr still geworden um die diplomatischen Bemühungen, den Konflikt politisch zu befrieden. Auf diesem Feld wären ein stärkeres diplomatisches Engagement und neue Initiativen der deutschen Bundesregierung aus unserer Sicht unbedingt notwendig.
Irakische Flüchtlinge, insbesondere die Christen, sehen eine Rückkehr in ihre Heimatdörfer als höchst unwahrscheinlich an, selbst wenn sie sicherheitspolitisch wieder denkbar sein sollte. Viele erzählen uns, dass eine Rückkehr für sie nur in Frage kommt, wenn diese international abgesichert ist. Kaum einer traut noch der irakischen Regierung oder deren Armee. Und vielfach gibt es auch kein Vertrauen mehr in die ehemaligen Nachbarn ihrer alten Heimat, die mit dem IS zusammen gearbeitet haben - wenn auch oft unter Androhung von Gewalt.
Neue Heimat wird für die meisten Christen auch nach Ende der jetzigen Kampfhandlungen das noch weitgehend sichere Gebiet der kurdischen Autonomieregierung sein. Wer aber die Möglichkeit dazu bekommt, wird die Zukunft für sich und seine Familie in den USA, Australien oder Europa suchen. Deutschland wird davon nicht ausgenommen sein. Aufgrund der derzeitigen Krisen und Kriege wird in den kommenden Jahren die Zuwanderung von Flüchtlingen nicht abreißen. Es bleibt eine zentrale Aufgabe unserer Gesellschaft, die Hilfesuchenden nach Kräften zu unterstützen - und wenn nötig, sie dabei zu unterstützen, dass sie einen Platz in der Mitte unserer Gesellschaft finden.
18. Dezember 2014