Redebeitrag von Dr. Oliver Müller, Leiter von Caritas international, anlässlich der Pressekonferenz zum Jahresbericht 2018 am 18. Juli 2019 in Freiburg. Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Damen und Herren,
auch ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, Sie herzlich bei uns zu begrüßen. Während wir hier mit Blick auf den friedlichen Schwarzwald zusammensitzen, müssen viele der syrischen Flüchtlinge im Libanon beobachten, wie die Armee mit Bulldozern in ihre improvisierten Siedlungen vorrückt. Seit Anfang des Monats müssen sie damit rechnen, dass ihre Behausungen zerstört werden, wenn diese nicht ausschließlich aus Holz und Plastik bestehen. Diejenigen, die sich mit Beton-Elementen verstärkt haben, können meist nur wählen, ob sie ihre Unterkünfte lieber selbst einreißen wollen oder abreißen lassen.
Immer wieder kommt es inzwischen in dem kleinen Land, das lange als Beispiel für eine große Solidarität mit seinen "Nachbarn" galt, zu Übergriffen auf syrische Flüchtlinge. Neben dem Libanon steigt unter anderem auch in der Türkei der Druck auf die Flüchtlinge. In den vergangenen Monaten haben die Spannungen zwischen der einheimischen Bevölkerung und den Schutzbedürftigen aus dem Nachbarland noch einmal spürbar zugenommen. Von Präsident Erdogans einstigem Versprechen an die Syrerinnen und Syrer, sie schnell und unkompliziert einzubürgern, ist inzwischen kein Wort mehr zu hören. Auch die Grenze zu Syrien hat die Türkei inzwischen abgeriegelt.
Wir sehen diese Entwicklungen mit größter Sorge und warnen vehement davor, dass der Druck auf syrische Flüchtlinge in den Nachbarländern weiter erhöht wird. Man darf aber nicht vergessen, dass zwischenzeitlich jeder vierte Mensch im Libanon ein syrischer Flüchtling war (aktueller Anteil laut UNHCR: 15,6%) und die Türkei mit 3,6 Millionen Menschen derzeit die mit Abstand größte Zahl an syrischen Flüchtlingen aufgenommen hat.
Die internationale Gemeinschaft muss hier deshalb weiter solidarisch bleiben und sich zu einer langfristigen Unterstützung der Syrerinnen und Syrer in Not verpflichten. Sie darf nicht den Fehler machen, die Finanzierung der Hilfe, die ohnehin bisher nur zu zwei Dritteln (UNOCHA) gedeckt ist, in naher Zukunft weiter herunterzufahren und die Aufnahmeländer mit dieser enormen Herausforderung alleine zu lassen.
Während der Druck auf die Flüchtlinge vielerorts steigt, in ihr Heimatland zurückzukehren, bleibt die Situation in Syrien prekär. Ich habe dies selbst beobachten können, als ich das Land zuletzt im Frühling - zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres - besucht habe. Die Zahlen zum Konflikt in Syrien sprechen abseits aller persönlichen Eindrücke eine eindeutige Sprache. In dem Land sind derzeit mehr als 11,7 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen, 5 Millionen von ihnen sind Kinder. Mit den in die Nachbarländer geflüchteten Syrerinnen und Syrern beläuft sich die Zahl der Hilfsbedürftigen nach Angaben der Vereinten Nationen auf rund 17 Millionen Menschen.
Wie sieht es in dem Land aus, in das die syrischen Flüchtlinge zurückkehren müssten, wenn sie dem zunehmenden Druck nachgeben würden? Es ist ein Land, dessen Infrastruktur vielerorts schwer beschädigt oder zerstört ist. Da die Wirtschaft weiterhin am Boden liegt, können sich Millionen von Menschen nach wie vor nicht ausreichend selbst ernähren und sind auf elementare Unterstützung wie Nahrungsmittelhilfen angewiesen. Eine riesige Herausforderung stellt auch die Gesundheitsversorgung dieser Menschen dar.
Je länger der Krieg dauert, desto deutlicher wird, dass reine Nothilfe nicht mehr ausreicht. So stellt sich natürlich die Frage, ob man angesichts der derzeitigen politischen Situation auch Aufbauhilfe leisten kann oder ob man hierdurch das Assad-Regime stärkt?
Außenminister Heiko Maas hat die Unterstützung des Wiederaufbaus an die Bedingung geknüpft, dass zuvor ein politischer Prozess in Syrien auf den Weg gebracht werden muss. Diese Forderung ist aus politischer Sicht verständlich. Aus humanitärer Sicht wäre es aber fatal, der unschuldig leidenden Zivilbevölkerung solange die dringend benötigte Hilfe zu verwehren, bis Machthaber Assad zu Verhandlungen bereit ist. Denn von politischen Veränderungen ist das Land weit entfernt.
Unsere Überzeugung ist es, dass die Menschen in Syrien nicht doppelt bestraft werden dürfen. Die meisten von ihnen wurden ohne eigenes Verschulden in einen Krieg hineingezogen, den sie nicht wollten. Sie dürfen nicht zusätzlich darunter leiden, dass ihnen aus politischen Erwägungen die Unterstützung dafür versagt bleibt, ein neues Leben zu beginnen. Denn von ihrer Regierung oder anderen Kriegsparteien können die Syrerinnen und Syrer derzeit kaum Hilfe erwarten.
Wir dürfen nicht tolerieren, dass viele dieser Menschen noch oft Jahre nach den letzten Kriegshandlungen in nahezu zerstörten oder gerade einmal notdürftig reparierten Häusern leben müssen, viel zu häufig ohne Strom, ohne sauberes Wasser und ohne funktionierende sanitäre Anlagen, da diese als "strukturbildende Maßnahmen" angesehen werden und eine Unterstützung von westlichen Staaten in diesem Bereich abgelehnt wird.
Die Menschen in Syrien sind müde vom andauernden Kampf ums Überleben und sehnen sich nach einem Leben in Würde. Wir wollen unseren Teil dazu beitragen, ihnen dies zu ermöglichen. In Syrien im Jahre 2019 muss das auch heißen, sich damit zu beschäftigen, wie in Zukunft notwendige elementare Infrastruktur, aber auch Wohnraum instandgesetzt oder neu geschaffen werden kann. Ich bin der festen Überzeugung, dass diese Art der Hilfe in Syrien möglich ist, ohne dass sie instrumentalisiert wird. Denn es geht uns nicht darum, städtebauliche Projekte durchzuführen, die eigentlich von der syrischen Regierung auf den Weg gebracht werden müssten. Es geht uns vielmehr darum, Menschen in Not gezielt dabei zu unterstützen, ihre Lebensumstände zu verbessern.
Daher kann die Antwort auf die eingangs gestellte Frage für uns nur lauten: Ja! Wir müssen die Menschen in Syrien auch beim Aufbau einer neuen Existenz in ihrer zerstörten Heimat unterstützen. Wir halten das für unsere humanitäre Pflicht!
Aber lassen Sie uns noch auf ein weiteres Land schauen, in dem wir bei unserer Arbeit großen Herausforderungen begegnen. Nach Venezuela, oder besser gesagt: auf den gesamten Norden Südamerikas. Denn längst hat sich die Krise auf die gesamte Region ausgeweitet. Ich möchte Ihnen zwei kurze Beispiele geben, die die massive Versorgungskrise in dem Land veranschaulichen: Mit dem Mindestlohn in Venezuela von umgerechnet sieben Euro pro Monat kann man sich derzeit noch 30 Eier und ein Paket Maismehl leisten. Das "noch" kann man hierbei nicht genug betonen, denn die Preise steigen unaufhaltsam. Für das laufende Jahr rechnet der Internationale Währungsfond mit einer Inflation von zehn Millionen Prozent.
Insgesamt vier Millionen Menschen sind aufgrund der Krise in ihrem Heimatland bisher geflohen und versuchen sich in nahe gelegenen Ländern durchzuschlagen. Und die Tendenz ist ansteigend. Inzwischen haben sich in der Region feste Fluchtrouten entwickelt. Entlang dieser haben bewaffnete Gruppen in den Vorbeiziehenden eine willkommene zusätzliche Einnahmequelle gefunden. Oft müssen sich die geflüchteten Venezolanerinnen und Venezolaner mehrfach "freikaufen", um bestimmte Gebiete durchqueren zu können. Immer wieder hören die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer Partner - etwa in Kolumbien - derartige Horrorberichte.
Um den Geflüchteten bestmöglich helfen zu können, haben wir Projekte sowohl in der Grenzregion zwischen Venezuela und Kolumbien als auch zwischen Kolumbien und Ecuador gestartet. Weitere, etwa in Peru, sind derzeit in Planung. Unter anderem betreiben wir für die Flüchtlinge aus Venezuela zahlreiche Suppenküchen und versorgen unterernährte Schwangere und Kinder mit besonders proteinreicher Nahrung, zusätzlich bieten wir Hilfen im gesundheitlichen Bereich an. Teil unserer Projekte sind auch juristische Beratungen, die darauf abzielen, die Flüchtlinge über ihre Rechte aufzuklären und sie bei der Durchsetzung dieser in ihrem Aufnahmeland zu unterstützen.
Denn hier besteht großer Bedarf: Auch wenn sich Flüchtlinge aus Venezuela in der Theorie dank entsprechender multilateraler Vereinbarungen auf ein Bleiberecht und das Recht auf die Sicherung ihrer Grundbedürfnisse berufen können, werden ihnen diese Rechte oft nicht zugestanden. Der Grund ist meistens vergleichsweise banal: Nahezu alle der Flüchtlinge aus Venezuela besitzen zwar einen Personalausweis, aber keinen Reisepass, der in vielen Behörden als einzig akzeptiertes Ausweisdokument gilt.
Wir fordern die Aufnahmeländer der venezolanischen Flüchtlinge daher auf, ihren Verpflichtungen auch gegenüber denjenigen Flüchtlingen nachzukommen, deren Identität - auch ohne Vorlage eines Reisepasses - erkennbar ist. Es kann nicht im Sinne dieser Staaten sein, diese Menschen in die Illegalität zu treiben.
Neben unseren Aktivitäten für venezolanische Flüchtlinge bauen wir aktuell auch unsere Projektaktivitäten in Venezuela selbst aus, wo laut UN-Angaben mehr als sieben Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sind. Mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes und in Kooperation mit der Caritas Venezuela haben wir ein Projekt initiiert, durch das knapp 1000 Familien mit unterernährten Kindern in der Hauptstadt Caracas und deren Umland mit Nahrungsmitteln versorgt werden.
Ein Hemmnis beim Engagement in Venezuela ist, noch stärker als in Syrien, die Gefahr der Instrumentalisierung von humanitärer Hilfe. Besonders in Erinnerung werden vielen von Ihnen sicher die Bilder der Lastwagen an der Grenze zwischen Kolumbien und Venezuela sein, die Ende März in Flammen aufgegangen sind. Die Opposition um Juan Guaidó wollte damals erzwingen, dass ein vor allem symbolischer Konvoi mit Hilfsgütern nach Venezuela gelangt. Die Regierung um Präsident Nicolas Maduro verurteilte das Manöver als inakzeptable ausländische Intervention. Humanitäre Hilfe wurde hier von beiden Seiten missbraucht, um machtpolitische Interessen durchzusetzen. Wir verurteilen dieses Verhalten beider Konfliktparteien auf das Schärfste, da es den Ruf und die Effektivität humanitärer Organisationen zu Unrecht schädigt und Menschen dringend benötigte Hilfe verwehrt.
Unser Anspruch ist es, ein neutraler und unabhängiger Akteur zu sein, der Menschen in schwerer Not zur Seite steht. Und in dieser Funktion möchte ich dringend an die Konfliktparteien appellieren, humanitäre Hilfe uneingeschränkt und ohne politische Instrumentalisierung zuzulassen. Darüber hinaus muss auch eine vereinfachte Einfuhr von Hilfsgütern nach Venezuela möglich gemacht werden! Alles andere wäre ein weiteres Verbrechen an Menschen, die völlig schuldlos in eine humanitäre Katastrophe geraten sind.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Oliver Müller - Leiter Caritas international