Wenn ich über humanitäre Hilfe spreche, dann tue ich das aus der Perspektive eines Praktikers, dessen tägliche Arbeit geprägt ist von der Planung und Durchführung humanitärer Hilfsprogramme in Tschetschenien, Afghanistan, Kolumbien, Angola oder anderswo. Und deshalb gehe ich mit diesem Thema vielleicht anders um als das Wissenschaftler oder Politiker tun. Ich würde die Fragestellung "Was kann humanitäre Hilfe leisten?" gerne verändern und lieber fragen:
Was muss humanitäre Hilfe leisten? (im Sinne eines ethischen Imperativs, einer moralischen Kategorie, einer Verbindlichkeit) Was ist ihre zentrale Funktion und Aufgabe? Dann werden wir vielleicht sehr schnell sehen, was alles von der humanitären Hilfe erwartet wird, und daraus ergäbe sich fast zwangsläufig die zweite Frage, nämlich: Was kann humanitäre Hilfe nicht leisten? Denn nicht alles, was an Erwartungen, Hoffnungen und Anforderungen an die humanitäre Hilfe gestellt wird, kann sie erfüllen.
Was muss humanitäre Hilfe leisten? (wenn sie ihrem Namen gerecht werden will)
Sie muss - und tut es auch - der Barbarei des Krieges, der Unterdrückung, Vertreibung und Gewalt, der Menschen verachtenden Politik mancher Staaten ein Zeichen der Menschlichkeit entgegensetzen. D.h. die humanitäre Idee aufrechterhalten, der politisch der Anspruch zugrunde liegt, zur Zivilisierung der Gewalt im internationalen System beizutragen (so Eberwein). In diesem Sinne muss humanitäre Hilfe parteiisch sein, nämlich indem sie Partei ergreift für die Opfer von Gewalt, Unterdrückung und Ausgrenzung. Und sie muss, auch dass ist eine wichtige moralische Funktion, deutlich machen, dass Menschen sich in ihrem Handeln nicht nur von der Gier nach Macht und nach Geld bestimmen lassen, sondern von der Barmherzigkeit - ein antiquierter Begriff?
Daraus ergibt sich unmittelbar, dass die humanitäre Hilfe nach meinem Verständnis auch die Verpflichtung hat, Verletzungen des humanitären Völkerrechts öffentlich zu machen, also den Bestimmungen zum Schutz von Flüchtlingen, den Menschenrechten und elementaren Prinzipien humanitärer Arbeit (wieder) Respekt zu verschaffen. Sie alle sind in den Konflikten der jüngsten Zeit systematisch missachtet worden. dafür gibt es zahlreiche Beispiele, wo die Rechte von Flüchtlingen und IDPs missachtet werden, insbesondere in Kriegssituationen wird das humanitäre Völkerrecht verletzt, werden Menschenrechte verletzt, z.B. indem Flüchtlinge an Grenzen zurückgehalten werden (Beispiel Blace Kosovo/Mazedonien), oder wo Flüchtlinge zwangsumgesiedelt werden, oder wo Militärs in unerlaubter Weise ihre strategisch-militärischen Ziele mit humanitärer Hilfe vermischen, usw.
Zweitens: Humanitäre Hilfe muss bedingungslos geleistet werden. Das Überleben der Menschen zu sichern, das hat Vorrang vor allem anderen, Die Menschen mit Nahrung zu beliefern, sie vor Regen und Kälte zu schützen, sie medizinisch zu versorgen, das alles verstehen wir unter Soforthilfe. Was heißt dann bedingungslos? Die Hilfe wird geleistet für Menschen, die in eine existentielle Not geraten sind, und sie wird diesen Menschen gegeben ohne danach zu fragen, wie hoch das Maß ihrer eigenen Schuld an der Katastrophe ist, in die sie geraten sind (an dem nachgeschobenen Halbsatz können Sie erkennen, dass ich humanitäre Hilfe aus einem christlichen Grundverständnis heraus definiere). Bedingungslose Hilfe heißt Hilfe und Schutz ohne Ansehen von Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischer Überzeugung oder sonstigen Unterscheidungsmerkmalen (= schuldig oder nicht schuldig). Einziges Kriterium ist die tatsächliche Not der Menschen.
Humanitäre Hilfe darf die Menschenwürde nicht beschädigen: Humanitäre Hilfe muss so geleistet werden, dass die Menschen, denen die Hilfe gilt, nicht in ihrer Würde verletzt werden. Das klingt einfacher als es in Wirklichkeit ist. Es verlangt, Menschen nicht zu reduzieren auf ihr Elend und ihre Not, sie nur noch als Hungernde, Flüchtlinge, Frierende, vulnerable Gruppen zu betrachten, wie auch immer das in unserem Helferjargon heißen mag, und dann nach schnellen und effizienten Lösungen für das jeweilige Problem zu suchen: Decken, Medikamente, Nahrungsmittel, Zelte. Sauber - satt - warm, das ist notwendig, aber es reicht nicht. Menschen dürfen durch die Hilfe nicht entmündigt werden. Sie müssen motiviert werden, an die eigene Kraft zu glauben und die eigenen, fast immer vorhandenen Selbsthilfekräfte zu mobilisieren. Das ist einer der Gründe, weshalb ich glaube, dass die humanitäre Hilfe kein Tummelplatz für notorische Gutmenschen ist, solche Leute also, die zur Befriedigung ihres eigenen Helfersyndroms oder zur Beruhigung ihres schlechten Gewissens dankbare, zu ihnen aufschauende Hilfebedürftige brauchen, aber keine mündigen und selbstbewusste Menschen, die dem Opferklischee nicht entsprechen.
Humanitäre Hilfe muss vergessene Katastrophen in Erinnerung rufen: das heißt: nicht allein dem CNN-Effekt folgen, nicht nur dort helfen, wo die Kameras hingehalten werden. Die Opfer des Bürgerkrieges in Sierra Leone sind genauso wichtig wie die Opfer im Kosovo. Die Medienaufmerksamkeit ist jedoch nicht gleichmäßig verteilt. Also muss die humanitäre Hilfe eine Öffentlichkeit dafür herstellen, ein Bewusstsein dafür fördern, dass auch in den strategisch uninteressanten, vergessenen Teilen der Welt Menschen leiden und Hilfe geleistet werden muss.
Humanitäre Hilfe muss auch Ursachen bekämpfen und Zukunft gestalten: Wir haben die Verantwortung, in Katastrophen nicht nur kurzfristig das Überleben zu sichern, sondern auch die Lebensumstände insgesamt zu verbessern; damit sind die Armen auch für die Zukunft weniger verwundbar. Katastrophenhilfe auf die kurzfristige Intervention zu reduzieren und Hilfe nur so lange zu leisten, wie die Medien über sie berichten, höhlt das humanitäre Anliegen aus und gibt auf die wirklichen Notlagen der Menschen keine Antwort. Wir versuchen immer, Hilfe zu leisten, die sich mit der Selbsthilfe der Betroffenen verbindet. Wir wollen die Ursachen für die Notlagen bekämpfen und den Armen eine Stimme geben. Humanitäre Hilfe muss darauf achten, keine langfristigen Abhängigkeiten zu schaffen, sondern nachhaltige Entwicklung fördern, die den Menschen langfristige Perspektiven vermittelt.
Wenn die humanitäre Hilfe die genannten Prinzipien ernst nimmt, dann ist sie - wenn auch in unterschiedlichem Maße - ein Beitrag zu Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung.
Und das ist schon der Übergang zu der Frage, was die humanitäre Hilfe nicht leisten kann:
Was kann humanitäre Hilfe nicht leisten? Das heißt: Wo sind ihre Grenzen?
Humanitäre Hilfe ist kein Ersatz für Politik: Humanitäre Hilfe kann nicht Frieden schaffen, wo politische und militärische Interessen andere Ziele verfolgen. Ohne politische Lösungen kann die Nothilfe nichts bewegen. Die Hilfe darf kein Alibi sein für verfehlte staatliche Machtpolitik oder politische Unfähigkeit zur Lösung von Konflikten. Humanitäre Hilfe kann nicht diejenigen aus der Verantwortung entlassen, die wirklich etwas bewirken können: Staatsmänner, Politiker, Diplomaten, Parlamentarier, vor allem aber die für den Bürgerkrieg Verantwortlichen.
Humanitäre Organisationen können - insbesondere unter Kriegsbedingungen - nicht für die Durchsetzung des internationalen Völkerrechts sorgen. Sie können die Zivilbevölkerung in den seltensten Fällen wirklich schützen, wenn Krieg und offene Gewalt vorherrschen (Kosovo, Sierra Leone). Der Zugang zu den Opfern von Gewalt ist in solchen Fällen oft nur begrenzt (Tschetschenien) oder gar nicht (Kosovo) möglich.
Humanitäre Hilfe ist kein außenpolitisches Propagandainstrument: die Hilfe darf nicht dazu benutzt werden, das außenpolitische Image Deutschlands aufzupolieren, indem die "deutsche humanitäre Hilfe" als Exportgut propagiert wird.
Humanitäre Hilfe ist kein Tummelplatz, keine Spielwiese für nach Sinn suchende Militärs. Wo Streitkräfte eine militärische Aufgabe haben, sollen sie sich aus der humanitären Hilfe heraushalten und diese den neutralen, politisch unabhängigen und unparteiischen Hilfsorganisationen überlassen. Allenfalls logistische Unterstützung für humanitäre Hilfsprogramme durch Streitkräfte kann unter besonderen Rahmenbedingungen sinnvoll und vertretbar sein.
Humanitäre Hilfe kann nicht langfristige Entwicklungsbemühungen ersetzen: eine kontinuierliche, an den langfristigen Entwicklungsbedürfnissen eines Landes orientierte entwicklungspolitische Zusammenarbeit kann nicht durch humanitäre Hilfe ersetzt werden. Nothilfe und Entwicklungszusammenarbeit müssen aber nicht zwangsläufig unverbunden nebeneinander stehen.
Humanitäre Hilfe kann nicht wirklich neutral und unparteiisch sein:
Jeder humanitäre Einsatz ist eine Intervention, ein Eingriff, auch ohne das Zutun von Militär und Staat; das gilt vor allem für Hilfeleistungen in Kriegsgebiete (Irak, Rwanda, Somalia, Kosovo, Mazodonien oder Afghanistan). Neutralität in der Humanitäre Hilfe wird immer schwieriger, weil sich der Charakter von Kriegen geändert hat. Wer in Angola Hilfsgüter für die eingeschlossenen Bevölkerungsgruppen geflogen hat, galt in den Augen der UNITA als Unterstützer des Feindes, also der Regierung. Umgekehrt setzen sich Hilfsorganisation leicht dem Vorwurf aus, Rebellenbewegungen zu unterstützen, wenn sie, wie etwa im Südsudan, der dortigen Bevölkerung humanitäre Hilfe leisten.