Dem Terror entkommen
Als Catherine Ibrahim mir von Boko Haram erzählt, drückt sie meine Hand ein wenig fester. Ihren Blick hat sie geradewegs auf mich gerichtet, und doch geht er durch mich hindurch. „Drei Jahre haben sie mich festgehalten“, sagt die 40-Jährige, als könne sie es selbst kaum fassen, dass sie jetzt frei ist.
Caritas-Fachkraft Eva Disegna spricht mit einer Vertriebenen in einem provisorischen Lager über die Bedürfnisse der Menschen, die vor Boko Haram fliehen mussten.
Foto: Corrado Disegna
Vertrieben durch den Terror von Boko Harram
Sie sei sehr krank, erzählt sie mir, während sie auf dem nackten Boden eines Hauses in einem Vertriebenenlager nahe der nordnigerianischen Stadt Maiduguri sitzt. Seit ihrer Gefangenschaft könne sie weder ihre Arme noch ihre Hände richtig benutzen. „Das hat mir Boko Haram angetan“, sagt sie und schaut auf ihre mit Narben überzogenen Hände. Ihre seelischen Wunden gehen noch weit tiefer.
Ich bin in diese Region des Landes gereist, um mir ein eigenes Bild von der Situation jener Menschen zu machen die im Fachdeutsch von uns Helfern als „vulnerabel“ bezeichnet werden. Menschen also, die weitgehend schutzlos und auf sich selbst gestellt sind. Nigeria ist ein Land, durch das ich in meinem Leben schon viel gereist bin und deren Bewohnerinnen und Bewohner ich gut kennengelernt habe. Was ich an ihnen bewundere, ist ihre Fähigkeit, sich trotz widrigster Umstände ihre unbändige Lebensfreude zu bewahren. Hier, im Polo Camp in Maiduguri, wird diese Eigenschaft der Menschen jedoch von den besonders tragischen Erlebnissen, die sie durchleben mussten, überlagert. Man spürt, dass sie noch immer in Angst leben.
Ihre seelischen Wunden gehen noch weit tiefer
„Ich habe meine Eltern und meinen Mann verloren“, sagt Catherine Ibrahim, ihren Blick zu Boden gerichtet. „Und meine drei Kinder. Zwei von ihnen werden noch immer von Boko Haram gefangen gehalten. Gott weiß, ob sie noch leben. Mein anderes Kind wurde vor meinen Augen umgebracht.“ Während ihrer Erzählung wird ihre Stimme plötzlich lauter, als es um die Hilfe geht, die die Regierung für sie leistet – oder besser gesagt, die sie nicht leistet. „Wir bekommen keine Unterstützung. Der Staat sorgt nicht dafür, dass wir zu essen haben, noch ermöglicht er es uns, zu einem Arzt gehen zu können“, sagt sie. „Gott sei Dank bin ich hierhergekommen – von der Caritas habe ich Hilfe zum Überleben bekommen und wurde zum ersten Mal seit einer Ewigkeit medizinisch behandelt.“
Es sei für alle in dieser Region schwer, den Lebensunterhalt ohne Hilfe zu bestreiten. „Wir wollen eigentlich alle wieder in unsere Dörfer heimkehren und ein normales Leben führen. Aber wie soll das gehen, wenn Boko Haram dort nach wie vor sein Unwesen treibt?“, fragt Ibrahim mich, ohne eine Antwort zu erwarten.
Langfristige Perspektiven schaffen
Da nicht klar ist, ob und wann die Binnenvertriebenen wieder in ihre Heimat zurückkehren können, haben die lokalen Partner von Caritas international Projekte in den aufnehmenden Gemeinden gestartet. Sie sollen den Menschen hier langfristig dabei helfen, ein selbstbestimmtes Leben ohne Hunger führen zu können.
Wie das in der Praxis aussieht, kann ich einige Stunden später in der nur wenige Kilometer entfernten Muna Dalti Community beobachten. Rund um die provisorischen Unterkünfte dieses Vertriebenenlagers liegen die Felder der Bewohnerinnen und Bewohner, auf denen sie mit Hilfe der Caritas Gemüsearten wie Okra, Karkade und Erdnüsse anbauen. Sichtlich stolz führen sie mich durch ihre kleine Oase. Nach kurzer Zeit gesellt sich Maryam Mudar zu mir und fängt an, mir ihre Geschichte zu erzählen: „Ich komme aus dem Norden Nigerias. Als Boko Haram unser Dorf überfiel, floh ich mit meiner Familie hierher.
Caritas-Fachkraft Eva Disegna spricht mit einer Vertriebenen in einem provisorischen
Lager über die Bedürfnisse der Menschen, die vor Boko Haram fliehen mussten.Foto: Corrado Disegna / Caritas international
Wir wurden sehr gut von der Gemeinschaft aufgenommen, obwohl es so viele von uns gibt. Die Caritas half uns, hier Gemüse zu kultivieren. Wir können davon leben, manchmal kann ich sogar ein bisschen auf dem Markt verkaufen“, erzählt Maryam Mudar stolz.
Die Projekte, die ich hier im Norden Nigerias besuche, um mich über die Umsetzung der Hilfen zu informieren, sind nicht die einzigen, die Caritas international rund um den Tschadsee initiiert hat. Außer in Nigeria kümmern sich lokale Partner auch im Tschad und in Kamerun um Binnenvertriebene, aber auch um die ursprünglichen Bewohnerinnen und Bewohner der Zufluchtsorte. Die Projekte reichen von der akuten Nothilfe über die Unterstützung von Kleinbauern und Fischern bis zur Gewährung von Mikrokrediten. Maryam Mudar steht neben ihren Pflanzen und schaut mich etwas nervös an.
Leise sagt sie zu mir: „Ich würde gerne noch mehr machen, am liebsten in die Schule gehen. Für mich und meine Familie ist es trotz der Gastfreundschaft der Menschen schwer hier. Wir sind eine Last für die Gemeinschaft, und wir können nicht immer hier bleiben. Mein Traum ist es, wieder heimzukehren.“ Als die Dorfbewohnerin Zulani Adamu ihre Worte hört, legt sie den Arm um sie. „Niemand von euch ist eine Last“, sagt die 46-Jährige zu Mudar und lächelt. Dann wendet sie sich wieder mir zu. „Es gibt durch den Konflikt wirklich viele Binnenvertriebene. Wir sind schon längst an den Grenzen unserer Kapazitäten angekommen“, sagt sie. „Umso glücklicher sind wir, dass die Caritas mit uns dieses Landwirtschaftsprojekt begonnen haben. Mit ihm können wir wenigstens gegen den Hunger ankämpfen. Auch wenn sich damit natürlich nicht alle anderen Probleme in Luft auflösen.“