Caritas Mitarbeiterin Natalka Kryva berichtet aus der Ukraine
Donnerstag, 3. März, 9:30 Uhr: Caritas international trifft sich zum täglichen Krisenstab, um die Nothilfe im Ukraine-Krieg zu koordinieren. Natalka Kryva, Projektmanagerin der Caritas Ukraine in Lviv, ist zugeschaltet. Auch wenn die Infrastruktur in der Ukraine beinahe zusammengebrochen ist, das Internet funktioniert noch. Gottseidank, denn nur so können Kolleginnen wie Natalka von der Lage berichten und genau festlegen, welche Art von Unterstützung sie von den Partnern in Deutschland brauchen. Sie berichtet aus ihrem Apartment in Lviv.
Jetzt für die Menschen in der Ukraine spenden
Natalka Kryva:
"Die Lage in Lviv ist noch vergleichsweise sicher. Deswegen sind auch mehr als 100.000 Menschen aus der ganzen Ukraine hierher geflohen. Sie kommen vor allem aus dem Süden, aus Städten wie Charkiw oder Mariupol. Dort ist die Lage sehr gefährlich. Mariupol ist momentan von russischen Truppen eingekesselt, die Menschen sind völlig isoliert, eine Flucht kaum mehr möglich. Gleichzeitig bricht die Versorgung in der Stadt zusammen. Das liegt vor allem daran, dass die Transport-Infrastruktur nicht mehr funktioniert. Es ist gerade grundsätzlich sehr schwer innerhalb der Ukraine von A nach B zu kommen, oder Hilfsgüter zu transportieren. Die Evakuierungen der Menschen aus den Gebieten, wo gekämpft wird, dauert deswegen viel länger als sonst. Züge fallen aus oder sind heillos überfüllt. Ich beherberge hier in meinem Apartment schon die zweite Flüchtlingsfamilie. Sie mussten die ganze Fahrt über 13 Stunden stehen - zusammengedrängt zwischen hunderten anderen Flüchtlingen. Die Menschen, die hier in Lviv ankommen, sind traumatisiert. Immer wenn die Straßenbahn draußen vorbeifährt, zuckt die Familie in meiner Wohnung zusammen. Sie sagen mir, dass sie das ratternde Geräusch der Bahn auf den Schienen an die Schüsse in ihrer Stadt erinnert.
Natalka Kryva ist per Videocall mit dem Krisenstab von Caritas international in Freiburg verbunden.Foto: ZDF-Beitrag 04.03.2022
Auch in anderen Städten in der östlichen Ukraine gehen die Lebensmittel zuneige, das berichten mir die Kollegen vor Ort. Auch Medikamente und Benzin fehlen. Einige Grundnahrungsmittel wie Brot oder Sonnenblumenöl werden sogar bereits rationiert.
Leere Supermarktregale, kein Bargeld und hohe Inflation
Eine Person kann dann beispielsweise nur ein Laib Brot kaufen. Pasta und Müsli gibt es gar nicht mehr in den Supermärkten. Die Regale sind halbleer und nach sieben Uhr abends kann man gar nichts mehr einkaufen, weil alles geschlossen ist. Das kann daran liegen, dass die Vorräte der Supermärkte bereits aufgebraucht sind oder dass der Transport mit Nachschub einfach nicht funktioniert. Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Fakt aber ist: wenn Güter verfügbar sind, können sie sich viele Menschen nicht mehr leisten. Die Preise für Lebensmittel sind inzwischen dreimal so hoch. Außerdem kann man zurzeit nicht mit EC-Karte zahlen, sondern nur mit Bargeld. Viele Ukrainerinnen und Ukrainer haben aber kein Bargeld mehr und sie können auch keines abheben, weil die Bankautomaten leer sind. Das ist auch für uns als Caritas eine große Herausforderung, weil auch wir nicht ausschließlich mit Bargeld arbeiten können. Wir bemühen uns, so gut es geht, die Hilfsgüter hier im Land zu beschaffen, ich denke aber, dass wir mittelfristig noch mehr humanitäre Hilfe aus dem Ausland brauchen werden. Unser Team bemüht sich deswegen darum, humanitäre Korridore zu schaffen und sowohl die Logistik als auch die vielen Dokumente zu organisieren, damit die benötigten Lieferungen reibungslos in und durch die Ukraine geliefert werden können.
Jetzt für die Menschen in der Ukraine spenden
Auch die Apotheken in einigen Städten sind so gut wie leer. Herzpatienten warten auf ihre Medikamente, genauso dringend gebraucht werden Insulin, Antibiotika oder angstlösende Mittel. In einer Situation wie dieser ist es umso wichtiger, dass humanitäre Organisationen wie die Caritas weiterhelfen und arbeitsfähig bleiben. Die Mitarbeitenden arbeiten landesweit unter enormen Stress, über 15 Stunden am Tag. Fast alle Gebiete sind jetzt gerade schwer zu erreichen. Aber die Caritas-Mitarbeitenden benutzen, wenn immer es möglich ist, die Caritas-Autos oder auch ihren eigenen, um zu den Bedürftigen zu gelangen. Es gibt auch viele Freiwillige, die uns unterstützen.
Durch den Krieg haben sich die Schwerpunkte der Caritas-Arbeit nicht nur geografisch, sondern auch inhaltlich verlagert. Vor der Invasion durch die russischen Truppen haben vor allem die Notfallteams im Osten des Landes - in der sogenannten "Pufferzone" nahe der Separatistengebiete - Hilfe für Kriegsbetroffene geleistet. Jetzt müssen die Caritasorganisationen im ganzen Land Kriegsflüchtlinge versorgen (Anm. d. Redak.)
Natalka Kryva:
"Die Caritas-Zentren im Osten und in der Zentralukraine wie Kramatorsk, Dnipro oder Zaporizhzhia fungieren jetzt hauptsächlich als kurzfristige Anlaufstellen für Menschen auf der Flucht. Die Flüchtlinge bekommen dort Hilfe und Unterstützung, (beispielsweis in Form von Lebensmitteln, Decken, Medizin oder einem Schlafplatz für die Nacht, Anm. d. Redak.). Dann flüchten sie weiter in den Westen, weil es ihnen dort sicherer erscheint. Die Caritas-Zentren in Städten wie Lviv, Ternopil oder Iwano-Frankiwsk beherbergen die Geflüchteten, vor allem Frauen mit Kindern auch für längere Zeiträume.
Ein Schwerpunkt der Hilfe: Traumabewältigung
Einige der Flüchtenden, die in unseren Zentren ankommen, sind in so schlechter Verfassung, dass sie auch Hilfe bei Alltagsdingen brauchen wie Wäsche waschen oder Duschen. Die Kinder- und Jugendlichen brauchen auch psychosoziale Betreuung. Viele sind durch die kontinuierliche Anspannung und das, was sie in den letzten acht Tagen erlebt haben, traumatisiert.
Dieses Mädchen ist aus der Ukraine nach Chisinau in Moldawien geflüchtet und findet hier Halt bei einer Caritas Mitarbeiterin. Kinder brauchen besondere Aufmerksamkeit und Betreuung in dieser schwierigen Zeit. Die Helferinnen und Helfer der Caritas Moldawien sind für die Jungen und Mädchen da. Foto: Marijn Fidder / Caritas international
Unsere Kinder- und Jugendprojekte laufen in den Caritas-Zenten im Westen ohne Unterbrechungen weiter. Auch im Osten bitten uns die Eltern, unsere Arbeit mit den Kindern nicht einzustellen, weil sie in den Caritaszentren die Möglichkeit haben, weiter zu lernen und miteinander zu spielen, während viele öffentliche Einrichtungen wie Schulen geschlossen sind.
Wir versuchen auch weiter Hauspflege anzubieten für alte und alleinstehende Menschen. Weil vor allem diese Bevölkerungsgruppe sehr vulnerabel ist. Viele können ihre Wohnungen wegen ihrer schlechten physischen Verfassung nicht verlassen und sind isoliert. Einige der Pflegepatienten haben auch eine Behinderung. Sie sind deswegen dringend auf die Hilfe der Caritas angewiesen."