„Kinder brauchen Schutzräume und Freiräume“
Irene Berger, Fachberaterin für Caritas international, erläutert die Ansätze und Schwerpunkte der Arbeit für Kinder.
Warum ist ein besonderer Einsatz für Kinder nach wie vor nötig?
Irene Berger: Weil Kinderrechte trotz dieser Konvention in erschütterndem Maße verletzt werden. In vielen Regionen sind Kinder mangel- oder unterernährt, weltweit hat etwa jedes vierte Kind unter fünf Jahren nicht genug zu essen, um sich gesund entwickeln zu können. Das sind 156 Millionen Kinder! Es gibt viel zu viele Kinder, die gar nicht zur Schule gehen oder nur qualitativ schlechte Bildungsangebote bekommen, die auf der Straße leben, die als Soldaten, billige Arbeitskräfte oder sexuell ausgebeutet werden.
Was kann ein Hilfswerk wie die Caritas dagegen tun?
Berger: Politisch und gesellschaftlich geht es darum, Kinderrechte immer wieder neu einzufordern und auf Missstände hinzuweisen. In der konkreten Projektarbeit und in der humanitären Hilfe hat Caritas international darauf zu achten, dass immer auch die besonderen Belange von Kindern berücksichtigt werden. In Kriegen und Konflikten etwa leiden alle Betroffenen. Und doch ist die Situation für Kinder eine besondere. Für sie sind Gewalt und Vertreibung besonders dramatisch, da ihnen rationale Verarbeitungsmechanismen fehlen, sie können nicht zur Schule gehen und nicht mehr mit Freunden spielen, im schlimmsten Fall haben sie Eltern, Geschwister oder Freunde verloren. Die humanitäre Hilfe muss also über Lebensmittelhilfen und medizinische Versorgung hinausgehen. In Syrien beispielsweise reicht die Hilfe der Caritas daher von Bildungsprojekten in den Flüchtlingslagern über psychosoziale Betreuung bis hin zu Traumaarbeit.
In Syrien, Kolumbien oder Afghanistan kennen viele Kinder nur das Leben im Krieg. Wie kann man ihnen helfen?
Berger: Kriegs- und Gewalterfahrungen führen zu schweren Traumata, die oft das gesamte Leben bestimmen. Daher geht es darum, Kinder der Gewalt zu entziehen, ihnen Schutzräume zu bieten. Die Caritas Jordanien etwa betreibt Kindergärten für syrische Flüchtlingskinder, die dort nicht nur lernen und eine Mahlzeit erhalten, sondern die durch Basteln und Malen auch ihre Ängste und Gefühle ausdrücken und ein Stück weit verarbeiten können. In Syrien selbst arbeiten Psychologen an Schulen mit Filmen und Puppen, um die Traumata der Kinder zu behandeln.
Können Schutzräume, die Sie erwähnt haben, inmitten des Krieges überhaupt hergestellt werden?
Berger: Im Kongo beispielsweise arbeitet die dortige Caritas mit ehemaligen Kindersoldaten in solchen Schutzräumen. Sie setzt sich für die Befreiung der Kindersoldaten ein und nimmt sie in ihren Zentren auf, um sie vor der Gewalt ihrer Umgebung abzuschotten. Durch psychosoziale Hilfen, durch Bildung und durch ein Leben in Gemeinschaft soll den Kindern eine Rückkehr ins zivile Leben ermöglicht werden. Das erfordert jedoch viel Geduld und Einfühlungsvermögen, denn Kindersoldaten wurde Gewalt angetan und sie haben oftmals selbst Gewalt ausgeübt.
Das Thema Gewalt spielt in vielen Projekten eine Rolle.
Berger: Ja, leider. Kinder leben viel zu oft in einem gewaltgeprägten Umfeld, nicht nur in Kriegsgebieten. Straßenkinder etwa erleben oft mehr, als junge Menschen ihres Entwicklungsstandes verkraften können, ohne Schaden an Körper und Seele zu nehmen: Sie müssen arbeiten, schlafen auf der Straße und machen sich Überlebenstechniken zu eigen, die von Gewalt geprägt sind. Die Caritas unterstützt offene Zentren, die – auch hier wieder – Schutzräume sein können, um Kindern die Möglichkeit zu bieten, sich auszuruhen, sich zu waschen, Beratung in Anspruch zu nehmen oder sich zurückzuziehen. Wenn sie hier auf Erwachsene treffen, die ihre spezifischen Erfahrungen nicht abwerten, sondern ihnen zuhören, werden viele motiviert, über Alternativen zu Gewalt und Gegengewalt und ein Leben weg von der Straße nachzudenken.
Welche Rolle spielt Bildung dabei?
Berger: Eine große – wobei es wichtig ist, dass man Bildung nicht auf die schulische Bildung begrenzt. Subjektorientierte Ansätze, die Caritas international in ihrer Arbeit verfolgt, gehen davon aus, dass Kinder in ihren jeweiligen Alltagsbezügen wichtige Handlungskompetenzen erwerben, die ihnen das Überleben in ihrer konkreten Situation ermöglichen. Straßenkinder etwa haben oft eine gute Menschenkenntnis und können sehr flexibel mit wechselnden Situationen zurechtkommen. Die Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen werden nicht über Bord geworfen, sondern sind Ausgangspunkt für lebensnahe Formen von Bildung. Dabei achten die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter darauf, dass die Kinder mitgestalten und mitentscheiden können.
Wird Bildung hier zu einer Art Lebenshilfe?
Berger: Bildung sollte immer an der konkreten Lebenssituation ansetzen. Viel zu oft wird Bildung immer noch als lebensfernes Bücherwissen vermittelt. Wenn die Eltern aber keinen Sinn in der Bildung ihrer Kinder sehen, schicken sie sie oftmals nicht zur Schule, sondern lassen sie arbeiten, denn viele Familien rechnen mit dem Verdienst der Kinder. Unser Ansatz ist daher ein ganzheitlicher, bezieht die Familie und das ganze Umfeld mit ein.
Wie sieht das konkret aus?
Berger: In Tansania beispielsweise unterstützen wir schon seit Jahren den Bau von Kindergärten. Die Bildung in Schulen und Vorschulen erschöpfte sich dort – teils bis heute – im Auswendiglernen. Wir orientieren uns pädagogisch am Situationsansatz, der die Realität der Menschen einbezieht. Das beginnt bei der Errichtung der Gebäude und setzt sich fort in der Gesundheits- und Ernährungserziehung, wo die Eltern erleben, dass ihre Kinder fürs Leben lernen. Oft erkennen sie dann auch die Chancen, die sich ihren Kindern durch Lesen, Schreiben und Rechnen erschließen. Das Wichtigste aber ist, dass Kinder sich durch lebensnahes und spielerisches Lernen körperlich, geistig und psychosozial bestmöglich entwickeln können.