Das Drama von Flucht und Vertreibung
Mehr Menschen denn je sind auf der Flucht
65,6 Millionen Menschen waren 2016 auf der Flucht, und täglich sind weitere 20 Menschen von Vertreibung und Flucht betroffen. Für zahlreiche Flüchtlinge ist zudem die Lage, in der sie sich befinden, immer bedrohlicher und die humanitäre Hilfe bei weitem nicht ausreichend.
Aus den Flüchtlingslagern in Libyen, wo derzeit 700.000 Menschen ausharren, wird über gewaltvolle Zustände berichtet. Die Zahl der Menschen, die den Transit über das Mittelmeer nicht überlebt, steigt nahezu täglich. Nur eine von 49 Personen überlebt die Überfahrt. Wer aus dem Jemen fliehen kann, wagt die riskante Flucht, denn der dortige Bürgerkrieg erstickt jede Hoffnung. 2,8 Millionen Menschen im Jemen sind durch anhaltende Gewalt und Konflikte vertrieben worden, gerade einmal 170.000 haben es nach Saudi Arabien, Oman oder Somalia geschafft. In Afghanistan kam es Anfang 2017 zu einer erheblichen Zahl von Anschlägen - nur vier von 34 Provinzen schätzt das Innenministerium als "hinreichend sicher" ein. Daher fliehen in Afghanistan zahlreiche Menschen vom Land in die städtischen Zentren. Zugleich finden sich tausende, die vor Jahrzehnten vor den Taliban nach Pakistan geflohen waren, erneut auf der Suche nach einem sicheren Ort in Afghanistan. Oft sind ihre afghanischen Herkunftsregionen für sie viel zu unsicher. Zurückverbrachte Flüchtlinge aus Europa sind für das Land eine zusätzliche Herausforderung, und die Mehrzahl der Flüchtlinge hat kaum eine Chance auf eine Daseinsvorsorge, weswegen Caritas international vor Abschiebungen nach Afghanistan warnt.
Die Kämpfer der Dschihadistenmiliz Islamischer Staat haben zwar im Norden und Westen des Irak wie auch in Syrien an Territorium eingebüßt, doch die verbleibenden Kampfeinheiten verbreiten weiterhin erbarmungslos Terror und Gewalt. Daher sind in Teilen Syriens und im Nordirak nach wie vor zahlreiche Menschen auf der Flucht, sofern sie noch die Kraft dafür haben. Die Militäroffensive zur Rückeroberung der einstigen Millionenstadt Mosul hat erneut tausende Menschen flüchten lassen - oder aber ihnen den Fluchtweg überhaupt erst eröffnet, nachdem sie monatelang von den Kämpfern des IS eingekesselt waren und vielfach Gewalt erfahren haben. Wegen des Bürgerkrieges in Syrien mussten in den vergangenen sechs Jahren über fünf Millionen Menschen fliehen. Über drei Millionen Menschen sind allein im Irak vor dem IS geflohen. Die syrischen Flüchtlinge, die über die Grenze in die Türkei fliehen konnten, müssen sich zwar kaum mehr vor Luftangriffen fürchten, doch die Mehrheit unter ihnen lebt weiterhin unter prekären Verhältnissen. In der Türkei sind Flüchtlinge aus Syrien, insbesondere aus den kurdischen Gebieten, massiven Razzien ausgesetzt.
Von vergessene Krisen und langjährigen Fluchtgeschichten
Auch ein Blick nach Nigeria, Tschad und Nordkamerun stimmt nicht optimistisch: auch hier sind Hunderttausende geflohen, nachdem die Terrormiliz Boko Haram seit 2014 zahlreiche Dörfer verwüstet und Menschen gefoltert oder versklavt hat. Die dschihadistische Terrormiliz operiert nach territorialen Verlusten, die sie im vergangenen Jahr hinnehmen mussten, zunehmend mit dezentraler Willkür: Sie schickt Gefangene, vor allem Kinder und Frauen, mit selbstzündenden Granaten in große Menschenansammlungen, auf Wochenmärkte und in Überlandbusse.
Seit vielen Jahren sind die zahlreiche Menschen am Horn von Afrika auf der Flucht. Eine langanhaltende Dürre und die Wirren des Bürgerkrieges im Südsudan sind für den Tod tausender verantwortlich. Im September 2017 meldet das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen erneut 148.000 Menschen aus dem Südsudan geflohen sind, die meisten von ihnen Frauen und Kinder. Kinder machen 62 Prozent der Flüchtlinge aus dem Südsudan aus (UNHCR). Damit gehöre das Land nach Syrien, Afghanistan und Somalia zu den Staaten mit mehr als einer Million Flüchtlingen, die außer Landes sind. Politische Konflikte treffen die Menschen in dieser Region, wo nahezu alle BewohnerInnen von Armut betroffen sind, umso mehr, wenn Dürren auftreten und Nahrungsmittel knapp werden. Auch in Somalia kommen die politischen Verhältnisse nicht zur Ruhe, dschihadistischer Terror, verendende Viehherden und ausfallende Ernten sind auch hier die vordringlichen Fluchtgründe.
Hier sind, ohne die Fluchtdramen in all diesen Ländern bewertend vergleichen zu wollen, nur die aktuellsten gewaltsamen Konfliktzonen erwähnt. Die Liste der Hotspot der Flucht vor politischen Krisen ließe sich noch einige Seiten lang weiter führen. In vielen weiteren Ländern wie Pakistan, Iran oder Libanon leben Vertriebene und Geflüchtete oft seit mehreren Jahrzehnten in einem fortwährenden Status der Unsicherheit. So auch in der Demokratischen Republik Kongo, wo sich Caritas international seit vielen Jahren für die Versorgung von Vertriebenen einsetzt. Das Land nahm zudem seit Mai dieses Jahres rund 60.000 Flüchtlinge aus dem Nachbarstaat Zentralafrikanische Republik Kongo auf.
Die große Flucht ereignet sich im Süden
Wie in der Demokratischen Republik Kongo, so sind zahleiche weitere Länder nicht nur Aufnahmeland für Geflüchtete, sondern auch Fluchtland. Nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR[i]) leben 84 Prozent der Flüchtlinge in Ländern, die zu den ärmsten der Welt gehören. Die meisten Flüchtlinge oder Vertriebenen suchen in ihren Heimatländern Zuflucht, oder sie fliehen über die Grenze in die direkt benachbarten Staaten. Die Vereinten Nationen unterscheiden zwischen den 22 Millionen Flüchtlingen, über 40 Millionen Binnenvertriebenen und 2,8 Millionen Asylsuchenden im Jahr 2016. Zudem gibt es zehn Millionen Staatenlose sowie Menschen, die in keine dieser Rechtskategorien fallen.
Die Hauptaufnahmeländer (Stand: 2016) heißen nicht Italien oder Griechenland - auch nicht Deutschland - sondern Jordanien (2,7 Millionen), Türkei (2,5 Millionen), Pakistan (1,6 Millionen), Libanon, (1,5 Millionen). Zu den Aufnahmeländern, die Hunderttausende Flüchtlinge beherbergen, gehören Iran, Äthiopien, Kenia, Uganda, die Demokratische Republik Kongo und der Tschad. Im Libanon ist jeder Fünfte Einwohner ein syrischer Flüchtling. Berücksichtigt man den Anteil der Flüchtlinge zur Gesamtbevölkerung und bedenkt, wie niedrig die Staatseinnahmen mancher Aufnahmeländer sind, so wird nochmals deutlicher: Die Versorgung der Flüchtlinge ist eine humanitäre Aufgabe der Weltgemeinschaft und die Aufnahmeländer, die selber von Armut betroffen sind, dürfen damit keineswegs alleine gelassen werden.
Mehrheitlich sind die 65,6 Millionen Flüchtlinge (Stand Ende 2016) aus ihren Heimatländern in benachbarte Aufnahmestaaten gezogen. Mit Blick auf den Nahen Osten, Zentralafrika und die Region am Horn von Afrika bedeutet dies, dass sie mehrheitlich eben auch in der Konfliktregion verblieben sind. Trotz Flucht leben diese Menschen in extrem schwierigen und unsichereren Situationen. Mehr als die Hälfte der in Nachbarstaaten Geflohenen befindet sich bereits seit mehr als einem Jahrzehnt in einer solchen Situation, teilweise sogar seit mehr als 30 Jahren.
Flüchtlingspolitik stärkt nicht immer eine sichere Zuflucht
Während die Europäische Union Staaten wie Eritrea, Somalia und Südsudan oder auch Libyen darin unterstützt, Menschen von der Flucht nach Europa abzuhalten, stellt für viele Menschen in diesen von diktatorischer Willkür, Hunger, Armut und Konflikten geschundenen Ländern die Flucht eine letzte Hoffnung dar. So haben in den vergangenen Monaten zahlreiche Menschen aus dem Südsudan die Grenze nach Uganda überquert. Auch hier ist Caritas international in Projekten für Flüchtlinge und für die oft ebenso bedürftige Aufnahmegesellschaft aktiv. Die aktuelle Hungerkrise hat zwar die Fluchtbewegung verstärkt, doch ist die gesamte Region ein Hotspot von Migration, Flucht und Vertreibung: Seit Jahren leben tausende Eritreer im Südsudan, viele Somalier waren bereits mehrfach in Kenia in einem der großen Flüchtlingscamps oder in den informellen Siedlungen am Rande der Stadt Nairobi. Eine Bleibeperspektive haben sie meist nicht.
Nicht immer führt Flüchtlingspolitik zu einer Politik für mehr Sicherheit für Menschen, die Zuflucht und Schutz suchen. So haben die Grenzkontrollen der EU mit Libyen in keiner Weise das Leben der Flüchtenden in den miserablen Elendscamps in Libyen verbessert. Ganz im Gegenteil: Inzwischen hat sich an der libyschen Küste eine mafiöse Strategie der Entwendung von Bootsmotoren etabliert. Letztere werden von so genannten Motorenfischern von den Schlauchbooten auf dem offenen Meer entwendet. Die dann manövrierunfähigen Boote und ihre Passagiere werden damit wissentlich in Seenot gebracht.
Im Sommer 2015 stellten die Schließung der Balkan-Route und das Inkrafttreten des EU-Türkeiabkommens eine Zäsur für die Menschen dar, die Schutz vor Krieg und Elend suchten oder für eine bessere Zukunft jenseits von Willkür und Gewaltherrschaft auf eine Perspektive in Europa hofften. 2016 zählte die Überfahrt von der Türkei auf die griechischen Inseln zu den Routen mit hohen Todeszahlen. In diesem Sommer ist es das Abkommen der EU mit Libyen, das im Fokus steht. Von Januar bis August sind im Mittelmeer nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als 2.400 Flüchtlinge ertrunken - einer von 49 Menschen, die die gefährliche Überfahrt wagten, stirbt. Dennoch hat die Zahl der Menschen, die eben diese Route wählen, zugenommen: Der EU-Grenzschutz Frontex meldete, dass in der ersten Jahreshälfte 21 Prozent mehr Menschen über die zentralmediterrane Route nach Italien, Apulien und Kalabrien geflohen sind[ii]. Die Anzahl derjenigen, die sich aus Libyen in Richtung Sizilien oder Lampedusa aufmachten, wurden nicht weniger.
Zu den zahlreichen Krisen, die für viele Millionen Flüchtlinge zu einem langfristigen Leben im Transit und vielfach zu einem Ausharren im Elend geführt haben, gesellt sich eine Krise der Bereitstellung von Zuflucht: Der Nothilfebedaft der Menschen steigt, die Bedingungen der Arbeit für humanitäre Hilfsorganisationen verschlechtert sich vielerorts.
Mit den zahlreichen Fluchtrouten, die von Menschen oft auf Leben und Tod erprobt werden, weil sie nicht bleiben können, wo sie keine Zukunft mehr für sich sehen, hat sich die humanitäre Lage zugespitzt. Damit hat die Nothilfe für Menschen auf der Flucht vor Krisen als Arbeitsbereich von Caritas international in den letzten Jahren enorm an Bedeutung gewonnen.
August 2017