Raus aus dem Abseits – rein ins Spiel
Wenn Viktor Thiessen über Kinder spricht, die in Afghanistan mit einer Behinderung zur Welt kommen, wählt er drastische Worte: „Sie sind von Anfang an auf dem Abstellgleis, werden mitgeschleppt und gelten als vom Schicksal geschlagen. Die Eltern schämen sich, diese Kinder in der Öffentlichkeit zu zeigen.“ Nur langsam verändert sich das Denken der Menschen – und daran hat auch Thiessen seinen Anteil. Der Deutsche hat zwei Orthopädie-Zentren in Afghanistan aufgebaut und mit seinem Team viel dafür getan, dass Menschen mit Behinderung selbst aktiv werden und sich ihre Stellung in der Gesellschaft verändert.
Plötzlich spielt die Behinderung keine Rolle mehr
Die größte Erfolgsgeschichte begann im Jahr 2008. Auf Anregung zweier Mitarbeiter im Rollstuhl ließ Thiessen den Innenhof der Orthopädie-Werkstatt in Maimana teeren und zwei Basketballkörbe aufstellen. „Damals gab es noch keinen Sport für Menschen mit Behinderung. Die waren immer nur Zuschauer“, erinnert sich Thiessen. „Plötzlich konnten die Jungs selber etwas machen, und dazu noch etwas, was andere nicht konnten.“ Anfangs mussten die jugendlichen Patienten noch mit einem Essen oder der Übernahme der Transportkosten fürs Training begeistert werden. Doch das Team wuchs schnell zusammen, erarbeitete sich ohne Trainer die neue Sportart und nahm bald an nationalen Turnieren teil. Für Viktor Thiessen spielt der sportliche Erfolg eine Nebenrolle. Ihm ist es wichtig, dass seine Spieler öffentlich wahrgenommen werden. Beim ersten Turnier auf dem heimischen Platz gegen ein Team aus Mazar-e-Sharif waren der Gouverneur und das Fernsehen da. „Dadurch haben viele gesehen, was da entstanden ist.“
Barrieren in den Köpfen aufbrechen
Welche Bedeutung der Basketball für den Selbstwert der jungen Männer hat, erklärt Mohammad Haroon Yosufi, der 2008 als Jugendlicher ins Team einstieg: „Der Sport hat mir gezeigt, was wirklich in mir steckt.“ Und das ist weit mehr, als ihm sein Umfeld bis zu dem Zeitpunkt zurückspiegelte. „Wenn du behindert bist, erlebst du ständig Diskriminierungen. Der Sport hat mir geholfen, die Barrieren in den Köpfen aufzubrechen und mir einen guten Ruf bei meiner Familie, meinen Freunden und in der Gesellschaft aufzubauen.“ Mittlerweile spielt der 24-Jährige wie drei seiner Teamkollegen aus Maimana in der afghanischen Nationalmannschaft und studiert Medizintechnologie. Als Aushilfslehrer hat er gehörlosen Kindern die Zeichensprache beigebracht und ihnen etwas von seinem Selbstbewusstsein weitergegeben.
Jetzt erobern die Frauen den Basketballplatz
Auch weitere Spieler sind zu Vorbildern geworden: Zwei machen eine Ausbildung zum Physiotherapeuten, einer eine dreijährige Ausbildung zum Orthopädietechniker in Afghanistan und einer in Deutschland, wohin er vor den Taliban geflüchtet ist. „Alles Männer mit einer Behinderung, die viel an andere weitergeben können und ein sicheres Einkommen haben. Das ist natürlich toll“, findet Thiessen. Er hat 2018 ein neues Projekt gestartet: eine Rollstuhl-Basketball-Mannschaft für seine Patientinnen. „Frauen haben in dieser Gesellschaft nicht dieselbe Stellung wie die Männer. Aber schon die Tatsache, dass die Mädels beim Spielen lachen, Spaß und Freude haben, was sie sonst praktisch nicht haben – allein das ist ein riesen Erlebnis.“ Thiessen hofft, dass das Team ab dem kommenden Jahr an nationalen Turnieren teilnehmen und dadurch zu einer veränderten Sicht auf Frauen mit Behinderung beitragen wird.